Die Decksplanken waren glitschig, von einem dünnen moosähnlichen Belag überzogen. Es war anzunehmen, daß das Schiff bereits seit Wochen hier vor Anker lag.
Der Seewolf und seine Männer sahen sich um. Zeichen eines Kampfes gab es nicht, keinerlei Spuren einer Auseinandersetzung. Oder doch?
Hasards Blick fiel auf das offene Kombüsenschott, das halb aus seiner Verankerung gerissen war.
„Ferris, Smoky!“ sagte er und ging voraus. Die beiden Männer folgten ihm.
Hasard stieg als erster in das Halbdunkel der Kombüse. Fauliger Geruch schlug ihnen entgegen. Der Brechreiz, der augenblicklich in ihnen aufstieg, konnte nicht nur von verdorbenen Lebensmitteln herrühren.
Hasard tastete sich nach rechts voran, an irgendwelchen Schapps entlang, deren Holz sich fettig-glitschig anfühlte.
Unvermittelt stieß er mit der rechten Fußspitze gegen etwas Weiches. Er verharrte und blickte zu Boden.
Nur quälend langsam gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel, das dort unten noch intensiver war.
Im nächsten Augenblick verstärkte sich der Brechreiz bis zur Unerträglichkeit. Doch gleichzeitig drückte ihm eine unsichtbare Faust die Kehle zu.
Es war ein menschlicher Körper, der dort am Boden lag, bestialisch zugerichtet.
Ferris Tuckers Stimme meldete sich in jähem Entsetzen aus der anderen Ecke der Kombüse.
„Um Himmels willen!“ Die Worte des hünenhaften Schiffszimmermanns gingen in einen gurgelnden Laut über.
Hasard drehte sich um und erfaßte jetzt die düstere Szenerie in ihrer ganzen grausigen Deutlichkeit.
Smoky stand im Licht, das durch das offene Schott hereinflutete, würgte und hielt sich die Hand vor den Mund.
Vier Menschen waren in diesem engen Raum auf furchtbare Weise gestorben. Ihr Tod war entwürdigend gewesen, ihre Mörder so unvorstellbar bestialisch, daß es selbst den Seewolf an den Rand der Fassungslosigkeit brachte.
„Denkt, was ihr wollt“, sagte Smoky mit erstickter Stimme, „ich muß hier raus. Nichts wie raus!“
Ferris Tucker und Hasard folgten dem Decksältesten. Ihnen ging es nicht viel besser als Smoky. Das freie Atmen an Deck tat ihnen wohl, auch wenn die Luft tropisch feucht und stickig war.
„Hol’s der Teufel!“ polterte Edwin Carberry. „Ich fresse meine eigenen Schuhe, wenn ihr nicht alle drei regelrecht grün im Gesicht seid.“
„Kein Wunder“, sagte Smoky und hielt sich den Magen. „Geht mal selbst da rein.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.
Hasard winkte ab. Er schilderte den Männern, was sie in der Kombüse entdeckt hatten. Mit geweiteten Augen starrten sie ihn an.
„Wie es aussieht, handelt es sich um den Koch, den Schiffsjungen und zwei weitere Männer“, erklärte Hasard. „Sie müssen überrascht worden sein, deshalb konnten sie wahrscheinlich keine Gegenwehr mehr leisten. Die Mörder waren Kannibalen. Menschenfresser.“
„Menschenfresser?“ entgegnete Gary Andrews verblüfft. „Wieso konntet ihr dann noch vier Tote finden? Menschenfresser würden doch nichts übriglassen, oder?“
„Mann, o Mann!“ brüllte Smoky in einem jähen Wutausbruch, mit dem er seinem Entsetzen Luft machte. „Vielleicht hast du schon mal von diesen Asiaten gehört, die nur die Innereien von ihren Hunden fressen. So! Und wenn du das Ganze auf die freundlichen Kannibalen in diesem freundlichen Land überträgst, dann weißt du, was sich da drinnen abgespielt hat!“ Smoky atmete schwer.
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Gary Andrews senkte verlegen den Kopf.
„Wir müssen diesen armen Kerlen zur letzten Ruhe verhelfen“, sagte Hasard nach einer Weile. „Wer übernimmt das freiwillig?“
Edwin Carberry meldete sich zu Wort.
„Jeder von uns packt mit an. Das ist unsere Pflicht. Oder ist jemand anderer Meinung?“
Niemand widersprach.
„Also gut“, entschied der Profos. „Wir bringen die armen Teufel an Land und begraben sie dort. Ein Seemannsgrab können wir ihnen nicht bieten. Dazu sind die Küstengewässer zu flach.“
Der Seewolf packte mit an, als sie die furchtbar zugerichteten Leichen aus der Kombüse holten. Dann, während seine Männer die Toten in Segeltuch rollten und in die Jolle abfierten, untersuchte er die Achterdecksräume.
Seine Vermutung, daß sich außer den vier Männern in der Kombüse niemand an Bord aufgehalten hatte, bestätigte sich. Den Aufschluß, den er erhofft hatte, fand er in der Kapitänskammer.
So wertvoll das in Schweinsleder gebundene Logbuch war, so flüchtig und unvollständig waren die Eintragungen. Der Kapitän der „Seranza“ schien kein besonderes Interesse an Genauigkeit zu haben. Eine Entdekkernatur war er ganz gewiß nicht, denn es fand sich keinerlei Beschreibung von den Küsten dieses unbekannten Landes.
Doch in sorgfältiger Handschrift war immerhin vermerkt, daß die Karacke vor nunmehr dreizehn Monaten ihren Heimathafen Genua verlassen hatte. Angaben über Kurs und Bestimmungshafen waren bei Reisebeginn nicht eingetragen worden. Kapitän und Eigner der „Speranza“ war ein Genueser namens Nando Marchi, von dem auch die Eintragungen im Logbuch stammten.
Zwanzig Mann hatten zu Beginn der Reise unter seinem Kommando gestanden. Zwei Monate später, bei der Umsegelung des afrikanischen Kontinents, war einer der Mittschiffsleute an einer verschleppten fieberhaften Krankheit gestorben. Der Tote war der See übergeben worden, und Kapitän Marchi hatte die entsprechende Notiz im Logbuch mit der Befürchtung abgeschlossen, daß an Bord eine Seuche ausbrechen könne.
Nichts dergleichen war aber offenbar geschehen. Während die „Speranza“ den Gewässern des Indischen Ozeans entgegengesegelt war, hatte Marchi bei seinen Logbuch-Eintragungen immer mehr Sorglosigkeit walten lassen. Die Angaben über den jeweiligen Kurs waren lückenhaft. Die Namen der Häfen, die die Karakke in Afrika und auf dem indischen Subkontinent angelaufen hatten, waren dem Seewolf völlig unbekannt. Hatte Kapitän Marchi mit Absicht die größeren Hafenstädte gemieden? Es sah fast so aus.
Denn eins fehlte im Logbuch völlig: jedwede Angaben über die Ladung. Ein Kauffahrer war diese „Speranza“ also gewiß nicht, weil Handelsleute und die von ihnen beauftragten Kapitäne stets äußerste Genauigkeit an den Tag legten. Ein Pirat also? Auch diese Möglichkeit schied aus, denn mit ihren insgesamt acht Culverinen an Backbord und Steuerbord war die „Speranza“ lächerlich schwach armiert. – verglichen mit den meist hervorragend ausgerüsteten Hasardeuren der See.
Zu welchem genauen Zeitpunkt der Zweimaster das unbekannte Land erreicht hatte, ließ sich ebenfalls nicht feststellen. Nur soviel: Kapitän Nando Marchi hatte vor zweieinhalb Wochen in dieser Flußmündung ankern lassen, ein Beiboot ausgesetzt und war mit fünfzehn Mann aus seiner Crew flußaufwärts vorgedrungen. Insofern stimmte es also, daß sich außer den vier Männern in der Kombüse keine weiteren an Bord aufgehalten hatten.
Hasard schlug das Logbuch zu und legte es zurück auf das Pult. Die Luft in der engen Kapitänskammer war zum Schneiden dick. Auf dem Tisch standen eine leere Flasche und zwei Weingläser, die mit einer Staubschicht überzogen waren. Im Schapp neben dem Pult fand der Seewolf einen ganzen Vorrat an Rotwein. Hatte Marchi häufiger zu diesem Vorrat gegriffen als zu Federkiel und Tintenfaß?
Hasard verließ die Kapitänskammer. Seine Männer hatten am diesseitigen Ufer eine kleine Waldlichtung gefunden, wo sie die Toten begruben.
Warum war der Genueser mit dem größten Teil seiner Mannschaft ins Landesinnere aufgebrochen? Welches Reiseziel, welche Aufgabe hatte er überhaupt gehabt, als er Europa verlassen hatte? Fragen, die sich nicht beantworten ließen, vorerst nicht, vielleicht überhaupt nicht. Denn nach dem grausigen Anblick in der Kombüse erschien dem Seewolf das Schicksal der Genueser mehr als ungewiß.
Er