„Laß nur, Ilaria“, sagte er. „Oka Mama meint nicht alles so, wie sie es sagt. Du wirst das noch lernen.“
„Ich lerne es nie“, sagte Ilaria trotzig.
Der Kerl trat zwei Schritte auf die Alte zu und blieb stehen.
„Ich weiß, was du sagen willst“, erklärte er mit etwas schwerer Zunge. „Wir nehmen die Sache zu leicht und saufen uns die Hucke voll, statt ordentlich Wache zu halten.“
„So ist es ja auch!“ zischte die Alte.
Er schüttelte den Kopf. „Du irrst dich. Es sind noch zwei Glasen bis zum nächsten Wachwechsel, bis dahin sind wir wieder stocknüchtern. Wer sich auf Ausguckposten befindet, der trinkt keinen Tropfen. Wer immer sich der Insel nähert – wir sehen ihn.“
Verächtlich musterte Oka Mama zuerst ihn, dann die anderen.
„Ihr seid eine elende Bande von Bastarden“, sagte sie dann. „Denkt ihr überhaupt mal nach? Diese Verspätung – erscheint sie euch nicht seltsam?“
Der Pirat verneinte wieder. „Keineswegs. Mardengo weiß, was er tut. In St. Augustine hat er gesiegt, daran habe ich keinen Zweifel. Vielleicht aber hat er noch irgendwohin einen kleinen Abstecher unternommen – vielleicht hat er die Dons ausgequetscht und von einer Sache erfahren, die sich für uns lohnt.“
„Er kehrt mit Gold und Silber nach Pirates’ Cove zurück!“ rief ein anderer Kerl. „Es lebe Mardengo!“
„Es lebe Mardengo!“ brüllten auch die anderen.
Oka Mama kehrte mit nachdenklicher Miene ins Freie zurück. Vielleicht hatten die Kerle wirklich recht? Ihr Vertrauen in Mardengo hatte tiefe Wurzeln, bisher war nichts von dem, was er angepackt hatte, wirklich gescheitert. Er hatte viele Schätze horten können, die alle auf dem Eiland versteckt waren.
Plötzlich war sie wieder zuversichtlich. Ja – Mardengo, ihr Sohn, wird mit Gold, Silber, Perlen, Diamanten, Weibern und Sklaven nach Pirates’ Cove kommen! Dieses Bild erschien vor ihrem geistigen Auge, und mit dieser Vorstellung schlief sie schließlich auf dem Mattenlager in ihrer Hütte ein, nachdem sie ihren letzten Kontrollgang abgeschlossen hatte.
Hätte Okachobee auch nur andeutungsweise etwas von dem geahnt, was sich wirklich zugetragen hatte, dann hätten sich die Trugbilder ihres Schlummers sehr schnell in gräßliche Alpträume verwandelt. Mardengo war nicht als Sieger aus der Schlacht von Fort St. Augustine hervorgegangen – eine Pechsträhne verfolgte ihn, er hatte Niederlage um Niederlage erlitten.
Gewiß, es war ihm gelungen, die spanische Galeone „San Carmelo“ als Prise zu erobern und seine Kumpane zu befreien, die von den Spaniern gefangengenommen worden waren. Doch was nutzte ihm das? Es war der „schwarzhaarige Bastard“, der verfluchte Engländer, der ihm Unglück brachte – wo er ihm auch begegnete, brach Unheil über die Piraten herein.
So auch zuletzt – es hatte ein mörderisches Gefecht in der Bucht Ponce de Leóns gegeben. Mardengo hatte die Seewölfe entdeckt und ihnen mit den Kanonen der „San Carmelo“ schwer zugesetzt, doch er hatte nicht mit den Seminolen des berüchtigten Häuptlings Wakulla gerechnet.
Wakulla war ebenso kaltblütig wie gerissen und ließ sich von einem Schnapphahn wie Mardengo nicht täuschen. Er wußte, daß Mardengos Kampf nicht gleichzeitig die Sache der Seminolen war, deshalb hatte er sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ihn gewandt. Keiner durfte ungestraft in sein Territorium eindringen, weder Spanier noch Engländer noch eine wüste Horde Galgenstricke.
Die „San Carmelo“ war schwer angeschlagen, doch in seiner Wut vergaß Mardengo, daß er trotzdem noch eine gehörige Portion Glück gehabt hatte. Er war lebend aus der Bucht entwischt, und es schien keine Verfolger zu geben. Alles hätte schlimmer enden können – mit dem Untergang der Galeone und dem Tod seiner Bande.
Doch Mardengo tobte und konnte sich nicht wieder beruhigen. Selbst Gato, der durch die Ausbrüche seines Anführers sonst kaum zu beeindrucken war, ging ihm in dieser Nacht aus dem Weg. Er hatte sich auf das Hauptdeck begeben und half überall dort mit, wo es schleunigst anzupacken galt, wenn sie das Schiff wenigstens halbwegs wieder instand setzen wollten.
Mardengo hatte das Ruder übernommen. Er fluchte pausenlos und war versucht, seine grenzenlose Wut und seinen Haß an dem Schiff auszulassen. Doch wenigstens in diesem Punkt wußte er sich zu beherrschen. Nur vorsichtig bewegte er das Ruder und vollzog die Korrekturen, durch die er die Galeone auf Kurs zu halten versuchte. Eine Tonnenlast schien auf dem Ruderblatt zu liegen, es drohte zu brechen, wenn man es zu heftig drehte.
Der Mond hatte sich hinter Wolkenbänke zurückgezogen, es herrschte größte Finsternis. Auf der Kuhl und auf der Back stießen auch die Kerle, die Mardengo noch verblieben waren, die übelsten Verwünschungen aus. Einige von ihnen hatten Blessuren davongetragen, die nur notdürftig hatten behandelt werden können. Die Unversehrten mußten wie besessen schuften, sie wußten nicht, wo sie zuerst mit dem Aufklaren, Ausbessern und Lenzen beginnen sollten.
Jeweils vier Männer arbeiteten umschichtig an den Lenzpumpen, die anderen waren an Oberdeck. Sie brachten Ordnung in das laufende und stehende Gut, beförderten die Gefechtstrümmer außenbords, zimmerten hastig an Nagelbänken, Niedergängen, Schotten und Schanzkleid und zurrten die Kanonen fest, die sich beim Kampf losgerissen hatten.
Wie ein kranker Schwan segelte die „San Carmelo“ dahin. Sie hatte erhebliche Schlagseite und zog gewaltig Wasser. Mardengo konnte deutlich verfolgen, wie die Schräglage zunahm, die Krängung nach Backbord wurde bedrohlich. Seine Wut wich einem aufkeimenden Gefühl der Panik, er stieß wieder einen ellenlangen Fluch aus, dann schrie er: „Gato! Sofort zu mir!“
Gato ließ seine Arbeit im Stich und eilte zum Backbordniedergang, der auf das Achterdeck führte. Auch er gewahrte voll Entsetzen, daß sich das Backbordschanzkleid bereits so weit der Wasseroberfläche genähert hatte, daß das Deck unterzuschneiden drohte. Jeden Augenblick konnte das Wasser durch die Speigatten von außen eindringen.
Gato enterte das Achterdeck und hastete zu Mardengo. Für einen Moment standen sie sich lauernd gegenüber, Mardengo schien zu zögern, verbissen überlegte er, was er tun sollte, um das Schiff zu retten.
„Übernimm du das Ruder“, zischte er. „Ich muß die Hunde antreiben, sonst ist alles verloren. Sie arbeiten zu langsam.“
„Überleg dir, was du tust“, sagte Gato. „Sie sind verletzt und erschöpft. Wir sollten doch lieber die Küste anlaufen.“
„Und dann?“ Mardengos schmale Lippen waren verkniffen, seine buschigen Augenbrauen hatten sich drohend zusammengezogen. Wollte Gato gegen ihn aufbegehren? War die Lage reif für eine Meuterei? Schon seit der Niederlage von Fort St. Augustine befürchtete Mardengo das Schlimmste, aber er hatte den Unmut seiner Kerle stets erfolgreich zu bekämpfen gewußt. Doch in dieser Nacht schien sich alles zuzuspitzen. Dagegen gab es seiner Ansicht nach nur ein Mittel – die sofortige Gegenattacke.
„Dann verholen wir in eine geschützte Bucht“, entgegnete Gato so ruhig wie möglich.
„Du weißt genau, daß das nicht geht“, sagte Mardengo. „Die Seminolen haben sich mit den englischen Hurensöhnen verbündet. Der Teufel soll sie holen! Sie werden damit rechnen, daß wir uns irgendwo verkriechen. Hölle, kannst du dir nicht selbst ausrechnen, was sie tun?“
„Du meinst, sie suchen die Küste nach uns ab?“
„Du kannst dich darauf verlassen, daß sie’s tun.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Gato bestimmt. „Die Indianer vermeiden es, bei solcher Finsternis mit ihren Booten längere Strecken zurückzulegen.“
„Aber nicht die Engländer, du neunmalschlauer Hundesohn!“ stieß Mardengo aufgebracht aus. „Los, übernimm das Ruder! Und rede mir nicht in den Kram, oder du lernst mich von einer anderen Seite kennen!“