Roy Palmer
Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-737-2
Internet: www.vpm.de und E-Mail: [email protected]
Inhalt
1.
Fahles Mondlicht erhellte die Gestalt der alten Frau auf dem Inselfelsen. Unbeweglich stand sie da, der Blick ihrer scharfen, klaren Augen war auf die dunkle See gerichtet. Der Wind bewegte die Schöße ihres langen Kleides und spielte mit den beiden Federn, die in ihrem Hut steckten, als handle es sich um die ledrigen Blätter der Urwaldpflanzen, die das Eiland auf dem größten Teil seiner Fläche überwucherten.
Tiefe Furchen gruben sich in das Gesicht der Alten, jede von ihnen konnte eine Geschichte erzählen. Wie eine jahrhundertealte Landschaft wirkte dieses zerknitterte Antlitz, und doch war es erstaunlich wandlungsfähig. Es würde zu jäher Frische erblühen, wenn sich endlich das Schiff zeigte, auf das sie seit Wochen voll Sehnsucht wartete.
Okachobee, von allen nur Oka Mama genannt, wußte genau, daß Mardengo überfällig war. Sie hatte eine zeitliche Spanne der Ungewißheit in ihre Überlegungen mit einbezogen, doch trotz des Sturmes, der über Florida hinweggetobt war, und trotz aller anderen erdenklichen Widrigkeiten hätte er längst wieder hier sein müssen – hier, auf der Insel Pirates’ Cove.
Doch die stolze Flotte der Piraten kehrte nicht heim, weder zeigte sich die Dreimast-Galeone „Grinthian“, noch tauchten die Einmaster an der Kimm auf, die auf der Werft der Insel gebaut worden waren. Etwas Unvorhergesehenes mußte eingetreten sein, Okachobee spürte es mit all ihren Sinnen.
Mardengo war ihr Sohn. Sie kannte seine Gepflogenheiten und wußte, daß er eine derart große Verzögerung freiwillig niemals in Kauf genommen hätte. Sie ahnte, daß ihm etwas zugestoßen war. Hatten die Spanier ihn gefangengenommen?
Ärgerlich wandte sie sich um und blickte zu dem von Lagerfeuern erleuchteten Hüttenlager im Herzen der Insel. Nein, es konnte nicht sein. Sie hatten alles monatelang besprochen und bis ins letzte geplant. Die Spanier konnten Mardengo nicht überlistet oder geschlagen haben, sie waren ihm nicht gewachsen.
Die Bande war zur Zeit sehr groß und stark und hervorragend bewaffnet, hinzu kamen die mit Pulver gefüllten Tontöpfe, die Mardengo als Waffe ersonnen und gebastelt hatte – nein, unmöglich, die Spanier konnten nicht gesiegt haben.
Mardengo war mit seinem Verband ausgelaufen, um die Spanier in Fort St. Augustine zu überfallen und auszurotten. Die Festung sollte niedergebrannt werden, er wollte töten, plündern und brandschatzen. St. Augustine war nur der Anfang: Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Florida von allen fremden Eindringlingen zu befreien. Florida, so sagte er, gehöre ihm und würde eines Tages sein Reich sein.
Okachobee teilte diese Meinungen und war bereit, an der Seite ihres Sohnes rigoros zu kämpfen, bis das Ziel all ihrer Pläne erreicht war. Sie würden dabei auch nicht davor zurückscheuen, sich gegen die in den Sümpfen ansässigen Indianer zu wenden.
Die Seminolen und die Timucua mußten sich Mardengos Herrschaft beugen, er würde sie nicht als gleichberechtigte Mitbewohner der großen Halbinsel dulden. Unterwarfen sie sich ihm nicht, dann mußten sie vor ihm zurückweichen und sich neue Fisch- und Jagdgründe suchen.
Okachobee selbst war eine reinblütige Seminolin, doch sie war eine Abtrünnige ihres Stammes geworden. Die Gründe dafür lagen in den Ereignissen, die sich seinerzeit in Fort Caroline, der Niederlassung der Hugenotten unweit von St. Augustine, abgespielt hatten.
1565, vor nunmehr achtundzwanzig Jahren also, hatten die Spanier auf den Befehl Philipps II. hin Fort Caroline überfallen und die Franzosen niedergemetzelt. Es hatte nur einige wenige Überlebende des Massakers gegeben, über deren Verbleib jedoch nie etwas bekanntgeworden war.
Mardengo, der seinerzeit nur knapp acht Jahre alt gewesen war, und Okachobee hatten in Fort Caroline gelebt. Mardengo war der Sohn eines Hugenotten namens Laudonnière, der gegen 1560 in Florida gelandet war und zu den Mitbegründern der Kolonie an der Mündung des St.-Johns-Flusses gehörte. In der Nacht des Massakers drängte Laudonnière Okachobee und den Jungen zur Flucht, und buchstäblich in letzter Minute gelang es ihnen, zu entkommen.
Doch bei ihrem Stamm fand Okachobee nicht die Aufnahme und Unterstützung, die sie erhofft hatte. Von ihren Angehörigen wurde sie verachtet und verstoßen, weil sie ihr Herz einem weißen Mann geschenkt hatte. So irrte sie durch die Sümpfe, und Mardengo lernte schon damals, gegen den Hunger und die Gefahren des Bayous zu kämpfen.
Nach dem siegreichen Überfall der Spanier kehrte Oka Mama nach Fort Caroline zurück. Unter den Toten fand sie Laudonnière jedoch nicht. Später erfuhr sie, daß er das Massaker überstanden haben sollte, doch seit jener schrecklichen Nacht hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört. Es hieß, er sei in die Alte Welt zurückgekehrt.
Oka Mama verfluchte die Seminolen, und sie wünschte auch Laudonnière die Pest und das Sumpffieber an den Hals, weil selbst er sie verraten hatte. Oka Mama und Mardengo waren ganz auf sich allein angewiesen. Sie schlugen sich durch, so gut sie konnten. Als der Junge heranwuchs und groß und kräftig wurde, gelangen ihnen die ersten Überfälle auf Fischer oder einzelne Seefahrer, die durch Zufall in ihre Reichweite gerieten.
Allmählich entwickelte sich aus diesen Anfängen die Bande – Mardengo verstand es, wilde Kerle um sich zu scharen, die ihn sofort als ihren Anführer anerkannten. Die Meute wuchs im Laufe der Jahre, die Beutezüge der Piraten wurden immer verwegener und ertragreicher.
Eines Tages hatte Mardengo Gato kennengelernt, der heute sein treuester Kumpan und seine rechte Hand war. Gato hatte von einer Insel gewußt, die als Hauptschlupfwinkel für die Meute hervorragend geeignet war: Pirates’ Cove. Er hatte Mardengo hergeführt, Mardengo war begeistert gewesen. Seitdem hausten sie auf dem Eiland und unternahmen von hier aus ihre tollkühnen Raids.
Oka Mama stieg von ihrem Aussichtspunkt in den Urwald hinunter und schritt über den Pfad, den die Kerle dem Wildwuchs der Pflanzen abgerungen hatten, auf das Lager zu. Sie konnte das Grölen der Kerle und das Lachen der Mädchen vernehmen. Wieder verzerrten sich ihre Züge. Sie trat auf die Lichtung und steuerte auf eine der flachen Hütten zu, ohne die beiden Schwarzen zu beachten, die ihr freundlich zugrinsten.
Ihre dürren, runzligen Hände teilten den Schnürenvorhang der Hütte, sie trat ein. Sofort verstummte das Lärmen, die Männer und die Mädchen, die sich hier versammelt hatten, blickten fragend zu ihr auf.
„Ist