Die Leinen brauchte er, um sich eventuell auf seinem provisorischen Floß festzubinden. Wenn das Wetter sich verschlechterte und der Seegang zunahm, würde das erforderlich werden. Die Gefahr, ins Wasser zu rutschen, war dann groß, zumal er in seinem Zustand nicht in der Lage war, sich auf einer tanzenden, nur etwa zwei mal zwei Yards messenden Plattform zu halten.
Er belegte die Leinen an dem herausragenden Ende eines Spants, richtete sich wieder auf und ließ seinen Blick erneut wandern. Wenig später sichtete er etwas Helles, das sich als ein Stück Segeltuch entpuppte. Es hing an dem zerschossenen Überrest einer Spiere, ein Fetzen, der dennoch verwendbar war.
Mit etwas Akrobatik gelang es ihm, die Spiere zu sich heranzuziehen und das Stück Segel davon loszuschneiden. Er barg es und verstaute es zwischen den Leinen, so daß es nicht abtreiben konnte. Immerhin, dachte, er, das ist schon eine ganze Menge. Aber eine Waffe müßtest du noch haben – und Proviant.
Es war vermessen, zu hoffen, daß er sich alles verschaffen konnte, was er als Schiffbrüchiger zum Überleben brauchte. Aber er gab nicht auf. Wieder hielt er Umschau. Er erblickte etwas Unförmiges, das sich genau auf ihn zuzubewegen schien, kniff die Augen zusammen und versuchte, es zu identifizieren.
Die Erkenntnis war grausig: Ein Toter trieb im Wasser, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Er lag auf dem Rücken, dümpelte auf das Behelfsfloß zu und berührte es mit seiner Hand. Für einen Moment wirkte es so, als wolle er sich daran festklammern. Die Wellenbewegungen des Wassers erweckten ihn zu gespenstischem Leben. Aber seine gebrochenen Augen waren blicklos in den Nachthimmel gerichtet, und die Blessuren in seinem Unterleib verrieten, daß er eines schmerzhaften, aber schnellen Todes gestorben sein mußte.
„Gott sei deiner Seele gnädig“, sagte Hasard. Dann beugte er sich über ihn.
Der Tote trug keinerlei Kopfbedeckung, aber aus den zerfetzten Resten seiner Kleidung ließ sich schließen, daß er ein Seesoldat gewesen sein mußte. Die Explosion des Schiffes, auf dem er gedient hatte, hatte ihn halb zerrissen, erstaunlicherweise aber sein Gesicht und seinen Oberkörper verschont. Er mußte in die Luft katapultiert worden sein und hatte beim Sturz ins Wasser die Pistole, das Pulverhorn und die Kugeltasche verloren.
Eine Waffe hatte er aber doch noch: den Degen, der in der Scheide des Wehrgehänges steckte. Hasard zog den Mann so dicht wie möglich zu sich heran. Das Floß begann bedenklich zu schaukeln, aber er legte sich auf die Seite und verlagerte sein Gewicht so, daß ein Ausgleich vorhanden war. Mit geschickten Fingern öffnete er den Gürtel des Toten und nahm ihm das Wehrgehänge ab.
Der Degen war nicht verziert, aber aus bestem Toledostahl gearbeitet und scharf geschliffen, wie er sofort feststellte. Er schob ihn in die Scheide seines eigenen Wehrgehänges und verstaute den Gurt des Spaniers unter dem Segeltuch. Für alle Fälle, dachte er, man kann nie wissen.
Der Tote trieb weiter ab. Hasard blickte ihm nach und dachte: Vielen Dank, Kamerad. Du hast einem verdammten Engländer geholfen, aber du kannst dich nicht mehr darüber ärgern. Du hast keine Sorgen mehr und brauchst nicht ums nackte Überleben zu kämpfen.
Irgendwie mußte er sich Mut zusprechen, jedes Mittel war ihm recht. Sein alter Galgenhumor kehrte zumindest teilweise zurück, und er sagte sich, daß er notfalls bis zur Schlangen-Insel paddeln würde, wenn es erforderlich war.
Ein Bootsriemen schob sich in sein Blickfeld. Er griff nach der Planke, begann zu paddeln und fluchte, weil seine Brust wieder höllisch zu schmerzen begann. Jede Bewegung verursachte ihm Qualen, aber er biß die Zähne fest zusammen und stieß in Gedanken einige von Carberrys übelsten Verwünschungen aus – auf Englisch und auf Spanisch.
Das half – so schien es jedenfalls. Hasard ging bei dem Bootsriemen längsseits, legte die Planke weg, holte sich den Riemen und betrachtete ihn. In Ordnung, dachte er, er ist nicht gesplittert oder angeknackst, er läßt sich verwenden.
Die Krönung seiner Suche aber war das kleine Fäßchen, das plötzlich nicht weit von ihm entfernt auftrieb und rollende Bewegungen in den Wellen vollführte. Es schimmerte ein wenig im silbrigen Mondlicht und bot – alles in allem – einen äußerst verlockenden Anblick.
Wasser, dachte der Seewolf. Oder? Seinem Umfang nach war das Faß eigentlich zu klein, die Wasserbehälter an Bord von Segelschiffen waren im allgemeinen höher und bauchiger. Es bestand aber noch die Möglichkeit, daß es zu der Ausrüstung eines Beibootes gehörte, zu einer der Jollen, die das Gefecht nicht heil überstanden hatten.
Hasard paddelte zu dem Fäßchen und holte es mit dem Riemen zu sich heran. Plötzlich fiel ihm ein, daß es auch leer sein konnte, also war die Mühe umsonst. Irrtum: Als er versuchte, es auf das Floß zu ziehen, rutschte es ihm aus den Händen und landete wieder im Wasser.
Er selbst kippte um ein Haar außenbords und mußte mit den Armen rudern, um sich zu halten. Das Faß trieb ab und kugelte sich in den Fluten. Irgendwie hatte er den Eindruck, es grinse ihn höhnisch an.
Sehr witzig, dachte er, die Tücke des Objekts, nicht wahr? Noch einmal arbeitete er sich darauf zu. Er hievte es „an Deck“, und die Schmerzen schienen seine Brust sprengen und zerreißen zu wollen, aber auch dieses Mal unterdrückte er ein Stöhnen. Er stellte das Fäßchen vor sich hin, schloß die Augen und atmete tief durch.
Die Schmerzen ebbten wieder etwas ab. Er befaßte sich mit seinem Fund, suchte nach dem Korken, der das Spundloch verschloß. Ein leichter Geruch stieg ihm in die Nase – nein, es war eher ein Duft. Branntwein, dachte er und mußte unwillkürlich grinsen, zwar kein Brandy oder Whisky, aber immerhin ein ordentlicher Tropfen.
Auch die Spanier verstanden natürlich, Schnaps zu brennen. Er hatte gelegentlich die eine oder andere Sorte probiert und mußte eingestehen, daß das Zeug schmeckte und nicht nur „zum Einreiben“ taugte, wie Mac Pellew sagte.
Mac Pellew, der Kutscher, Carberry, Blacky, Smoky … Dan, Shane, Ferris und Ben – immer wieder mußte er an seine Kameraden denken. Er versetzte sich in ihre Lage und hatte das Gefühl, als heimlicher Beobachter unter ihnen zu sein. Sie waren überzeugt, ihn verloren zu haben. Gern hätte er ihnen irgendwie mitgeteilt, daß es nicht der Fall war, aber dazu bestand keine Möglichkeit.
Überhaupt, wie sollte er in der Nacht ein Signal geben, damit man ihn auffischte? Er hatte kein Pulver, keinen Feuerstein und Feuerstahl, kein Öl und keine Lampe – nichts. Er konnte höchstens rufen, aber es war die große Frage, ob man ihn hörte.
Weitermachen, dachte er, keine Zeit an unnütze Überlegungen verschwenden. Seine Lebensgeister waren zurückgekehrt. Nur an der erforderlichen Bewegungsfreiheit mangelte es wegen der Schmerzen, die ihn lähmten und behinderten.
Er tastete seine Brust ab, senkte den Blick und versuchte, im Dunkeln etwas von der Wunde zu erkennen. Sehr viel Blut hatte er nicht verloren, wenn sein zerrissenes Hemd auch damit getränkt zu sein schien. Die Schrammen auf seiner Brust stufte er als eher unbedeutend ein. Es waren eben, wie er richtig angenommen hatte, die Rippen, die ihm zusetzten. Sie brauchten nur leicht angebrochen zu sein und bereiteten doch höllische Schmerzen.
„Jede Fraktur“, hatte der Kutscher einmal gesagt, „tut ganz verflucht weh, und je dünner der Knochen ist, desto heikler ist die Sache.“
Vielleicht hätte der Kutscher ihm eine Art Brustbandage angelegt. Ganz gewiß hätte er ihm Ruhe verordnet. Beides ließ sich in seiner derzeitigen Situation nicht verwirklichen. Er hatte kein Verbandszeug, keine sauberen Tücher und kein heißes Wasser zum Reinigen der Blessur. Und eine Koje, in der er sich ausstrecken konnte, gab’s auch nicht. Hinlegen konnte er sich sowieso nicht, denn er mußte ja paddeln und Treibgut einsammeln.
Nicht sehr viel Zeit verstrich, und er sichtete wieder einen Bootsriemen. Zwei sind besser als einer, dachte er, und holte auch diesen an Bord.
Er begann jetzt, die Leinen kreuz und quer über das Floß zu spannen, damit ihm seine „Fundsachen“ nicht wieder verlorengingen. Er klemmte sie darunter, richtete alles so funktionell und sicher wie möglich ein und ruhte sich dann wieder ein wenig aus.