Etwa dreihundert Yards entfernt, an einer der Piers, lag eine spanische Galeone. Der Dreimaster, gedrungener und wesentlich massiger gebaut als die „Isabella“, hob sich in prunkvollster Weise von den anderen Schiffen ab. Vorn und achtern war der Spanier mit reichlich Schnitzwerk verziert. Auch die Armierung war allem Anschein nach recht beachtlich. Über der Heckgalerie prangte in riesigen goldenen Lettern der Name des Schiffes: „Santissima Madre“.
„Heiligste Mutter“, übersetzte Ferris Tucker mit einem Seufzer, „das kann man wohl laut sagen.“
Damit sprach er allen Arwenacks aus der Seele. Das alte Mißtrauen meldete sich bei ihnen mit schrillen Alarmtönen. Zwar wurde die Ostsee wahrhaft nicht von den Spaniern beherrscht, die Dons hatten hier eher kleine Brötchen zu backen. Aber der Zwischenfall mit dem spanischen Kapitän Juan de Gravina in Wisby auf Gotland steckte den Männern unter dem Kommando von Hasard und Arne noch mächtig in den Knochen.
Dort auf Gotland hatte der Seewolf seinen Vetter kennengelernt – ausgerechnet in jenem Moment, als sie die Leiche des Kaufmanns Jens Johansen entdeckten. Johansen hatte mit Bernstein gehandelt, was er als sein gutes Recht betrachtete. Doch König Sigismund von Polen beanspruchte dieses Recht für sich allein, und er hatte seine Schergen überall. De Gravina war einer von ihnen gewesen, bis Hasard ihn des Mordes an Johansen überführt hatte.
Ähnlich hatte er sich mit dem dänischen Kaufmann Thorsten Tyndall in Hapsal verhalten. Auch dieser war wegen des Bernsteinhandels umgebracht worden. Dafür hatten Hasard und Arne den polnischen Generalkapitän Witold Woyda als Täter entlarvt, der jetzt in der Vorpiek der „Isabella“ als Gefangener eingesperrt war und den dänischen Behörden zur Verurteilung übergeben werden sollte.
So wurden sie allesamt von bösen Vorahnungen beschlichen, als sie die spanische Galeone erblickten – ausgerechnet hier, im Hafen von Kolberg.
Die Söhne des Seewolfs sonnten sich unterdessen in dem Gefühl, den Spanier im Hafengewirr entdeckt zu haben. Mit stolzem Lächeln verfolgten sie die Bemerkungen der Männer, die nun begannen, sich in düstere Ahnungen zu ergehen. Und noch mehr Stolz erfüllte die Jungen angesichts der Tatsache, daß sie ihren Vater und Ben Brighton immerhin veranlaßt hatten, zum Spektiv zu greifen.
Äußerlich ähnelten sich die beiden Jungen wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen. Und schon jetzt, in ihren jugendlichen Jahren, ließen sie erkennen, daß sie als erwachsene Männer einmal alle überragenden Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Vaters haben würden.
Ein heranhuschender grauer Schatten unterbrach die Männer in ihren Mutmaßungen. Plymmie, die Bordhündin, hatte ihren Freßplatz vor der Kombüse im Stich gelassen und eilte schwanzwedelnd auf die Zwillinge zu. Federnd richtete sie sich auf, legte ihre Vorderpfoten auf das Schanzkleid, und im selben Moment sträubten sich ihre Nackenhaare. Ein heiseres Knurren drang tief aus ihrer Kehle, und dieses Knurren ging sofort in ein rauhes, zorniges Bellen über.
„Ruhig, Plymmie, ruhig!“ mahnte Hasard junior, und gemeinsam mit seinem Bruder streichelte er die Wolfshündin, die sich jedoch nur dazu bewegen ließ, das Bellen einzustellen. Ihr Knurren hielt an.
„Als ob ich mir das nicht gedacht hätte“, brummte Ed Carberry kopfschüttelnd. „Wenn das Vieh nicht zu jeder Sache seinen Senf dazugeben kann, ist es nicht zufrieden.“
„Sir, du tust ihr wieder mal unrecht“, sagte Philip junior empört. „Plymmie bellt den Spanier an. Sie merkt eben, daß da drüben an Bord unsympathische Leute sind.“
„Womit sie den richtigen Riecher hat“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn. „Hunde haben in der Beziehung einen sehr feinen Instinkt. Da hat es schon Ereignisse gegeben, die hinterher kein Mensch für möglich gehalten hat. Ich erinnere mich an eine bestimmte Geschichte in …“
„Schon gut, Donegal, schon gut“, fiel ihm Smoky eilig ins Wort, und die anderen nickten beifällig. Im Augenblick hatten sie keine Neigung, eine der endlosen Garne des alten O’Flynn anzuhören. Denn was die spanische Galeone dort drüben an der Pier betraf, war jeder mit seinen eigenen Überlegungen hinreichend beschäftigt.
Auch auf dem Achterdeck der „Santissima Madre“ schimmerten Spektive im trüben Tageslicht. Den Señores war die „Isabella“ offenbar ebenso aufgefallen wie den meisten anderen Leuten im Hafen von Kolberg.
Ben Brighton ließ den Kieker kopfschüttelnd sinken.
„Die sehen allesamt aus, als ob sie einer piekfeinen Gesellschaft entsprungen seien.“
„Wundert dich das?“ Hasard grinste, setzte das Spektiv aber nicht ab. „Tu bloß nicht so, als ob du die erste spanische Galeone deines Lebens siehst.“
„Hm.“ Auch Ben mußte grinsen. „Vielleicht liegt es daran, daß die Dons hier in der Ostsee so selten sind.“
„Ben, dies ist jetzt schon der zweite. Und das sind genau zwei zuviel.“
Der Seewolf ließ seinen Blick wandern. Die Optik des Spektivs lieferte ein klares Bild, so nah, als könnte er hinübergucken. Ben Brighton hatte mit seiner Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Offiziere der „Santissima Madre“ waren herausgeputzt wie Gecken. Da blitzten Knöpfe, Schnallen und Paspelierungen, als veranstalteten sie gerade einen Wettbewerb um die schönste Uniform. Selbst das wäre vielleicht weniger aufgefallen, wenn es sich um eine allgemein geltende Linie auf der spanischen Galeone gehandelt hätte.
Aber zwischen dem Achterdeck und den übrigen Decks des Spaniers lag eine Grenze wie zwischen zwei Welten. Die übertriebene Eleganz der Offiziere war wie ein schriller Mißklang angesichts der erbärmlichen Kleidung des normalen Schiffsvolks. Es war die übliche Distanz zwischen Achterdeck und Vordeck. Bei den Spaniern galt das als normal. So normal, wie es für sie immer noch war, im Mittelmeerraum Galeeren mit Rudersklaven einzusetzen. Methoden, an die englische Seeleute nur mit Abscheu denken konnten.
Diese verschnörkelte „Santissima Madre“ mit ihren herausgeputzten Offizieren war wieder einmal ein Beispiel dafür, wie sehr bei den Spaniern der Unterschied zwischen Knechten und Herren gepflegt wurde.
Hasard wollte seinen Kieker bereits absetzen, als ihm einer der Spanier auf dem Achterdeck auffiel. Der Mann ließ eben sein Spektiv sinken, ein hagerer, älterer Geck mit verlebten Gesichtszügen. Deutlich waren die Ränder unter den Augen und die tiefen Furchen seiner Haut zu erkennen. Über dem faltigen dünnen Hals hob sich ein schwarzer Knebelbart ab. Dazu trug der Mann eine schwarze Lockenperücke.
Nachdenklich betrachtete der Seewolf dieses Gesicht, das ihm ganz und gar nicht gefallen wollte. Nach der besonders prunkvollen Uniform zu urteilen, konnte es sich um den Kapitän der „Santissima Madre“ handeln.
Abrupt drehte sich der Spanier um, als spürte er, daß er beobachtet wurde.
Hasard zuckte mit den Schultern. Irgendwie hatte er das Gefühl, diese verlebten Gesichtszüge zu kennen. Aber so angestrengt er auch nachdachte, es gelang ihm nicht, sie einzuordnen.
Lautere Stimmen waren jetzt vom Kai zu hören – Lachen und freudige Rufe in deutscher Sprache. Dies war der Heimathafen der von-Manteuffel-Crew, das zeigte sich jetzt. Hasard und Ben Brighton gingen zur anderen Seite und blickten auf den Kai hinunter.
Eine große Schar von winkenden Menschen hatte sich dort gebildet. Kein Zweifel, man hatte Arne von Manteuffel und seine Männer erkannt, was nicht selbstverständlich war. Denn die altvertraute „Wappen von Kolberg“ gab es nicht mehr. Jenes Schiff, das Arne und seine Männer jetzt ihr eigen nannten, war noch bis vor kurzem das Flaggschiff des polnischen Generalkapitäns Witold Woyda gewesen. Jetzt betrachteten sie es als ihr rechtmäßiges Eigentum. Denn Woyda und seine Schergen hatten die alte „Wappen von Kolberg“ versenkt.
Also konnte es sich nur so verhalten, daß dieser Liegeplatz am Kai den von Manteuffels vorbehalten war.
Hasards Vermutung bestätigte sich kurz darauf. Vor einem der Kontor- und Lagerhäuser bildete die Schar der lachenden und winkenden Menschen