„Das ist unser Risiko, auf der Karte sind keine anderen Inseln eingezeichnet. Wir haben eine weite Reise vor uns.“
Hasard hatte seine Männer dahingehend informiert, daß es Richtung Südafrika weiterging, und damit über den Südatlantik zur Schlangen-Insel, dem geheimen Stützpunkt der Seewölfe. Dort mußte inzwischen allerlei geschehen sein, und der Seewolf war neugierig darauf, die Insel und ihre Bewohner wieder einmal zu sehen.
Doch der Weg bis dorthin war noch sehr weit. Noch befanden sie sich im Indischen Ozean, und um zur Schlangen-Insel und damit in die Karibik zu gelangen, mußte noch ein großer Teil der Welt umsegelt werden.
„Verdursten und verhungern werden wir schon nicht“, sagte Ben nach einer Weile. „Notfalls können wir immer noch die afrikanische Küste oder die Insel Madagaskar anlaufen.“
Doch ihre Sorgen waren unbegründet. Am frühen Morgen des nächsten Tages gab es eine Überraschung.
„Land, zwei Strich Backbord voraus!“ schrie Jeff Bowie, der im Großmars Ausguck hatte.
„Also doch kein Fliegendreck“, sagte Hasard lächelnd und deutete mit dem Finger auf eine winzige, verschwommen scheinende Nebelbank, die an der Kimm aufwuchs.
Es grenzte fast an ein Wunder, daß sie diese kleine Inselgruppe gefunden hatten und nicht daran vorbeigesegelt waren.
Hasard ließ den Kurs ein wenig korrigieren, bis die dunstige Bank vor dem Bug der „Isabella“ stand. Dann griff er nach dem Spektiv und blickte lange hindurch. Aber dadurch wurde das Bild kaum deutlicher, denn um die Inseln lag ein feiner Schleier aus Dunst oder Nebelschwaden. Er sah nicht einmal, ob das Land flach oder bergig war.
Er setzte das Spektiv ab und blickte zu den beiden O’Flynns, die in stiller Eintracht nebeneinander standen und sich leise unterhielten. Offensichtlich erklärte Dan seinem Vater etwas, und der alte O’Flynn nickte auch ganz friedlich, ohne rot anzulaufen oder „der Rotznase“ mit dem Holzbein zu drohen. Sie schienen ein Herz und eine Seele zu sein, und als sich die Zwillinge Hasard und Philip dazugesellten, war das schon fast so etwas wie eine Familienidylle, denn auch die beiden heckten ausnahmsweise mal nichts aus.
So war der einzige, der verbiestert herumlief, der Decksälteste Smoky. Seine linke Gesichtshälfte war noch stärker angeschwollen, das Auge kaum noch zu sehen und die Wange aufgeblasen wie ein Ochsenfrosch.
Jeder ging ihm aus dem Weg, denn Smoky war gereizt und sauer, und er hatte es sicher längst bereut, nicht zum Kutscher gegangen zu sein.
Das verstand weder Hasard noch die anderen, aber Smoky war nun mal ein sturer Klotz, und jetzt ging er erst recht nicht zum Kutscher. Er wollte sich doch nicht blamieren. No, Sir! Dann hielt er die Schmerzen eben noch länger aus.
Sollte es schlimmer mit ihm werden, überlegte Hasard, dann würde er sich den Decksältesten noch einmal vorknöpfen. Wenn er dann auch nicht reagierte, nun, dann konnte er was erleben. Ein Schlag an der richtigen Stelle, und bis Smoky wieder zu sich kam, war er seinen Zahn los. Hinterher konnte er sich dann austoben.
Die Insel rückte näher heran, und aus dem Dunst schälten sich die ersten Konturen heraus. Eine lange Bucht war zu erkennen, palmenumsäumt, menschenleer, ein Punkt im Ozean, an dem die Schiffe anscheinend achtlos vorbeigesegelt waren.
„Koralleninseln“, sagte Hasard. „Der Vegetation nach zu urteilen, muß es hier Trinkwasser in Mengen geben.“
Sehr dicht konnten sie an die malerische Bucht allerdings nicht heran, denn weit davor türmte sich Wasser auf, als würde jene Stelle im Meer kochen. Eine langgestreckte Korallenbank verbot jede weitere Annäherung. Dort brachen sich kleine Wellen, wenn sie gegen die Korallen anrannten, und wurden hochgeschleudert. Überall gab es grünliche Schaumwirbel. Die Riffe ragten so weit aus dem Wasser, daß man Mühe hatte, selbst mit einem kleinen Boot ungeschoren daran vorbeizugelangen.
„Schade“, sagte der Seewolf nach einem bedauernden Blick auf die wilden Wirbel, „aber hier ankern bringt uns nichts ein. Wir segeln ein Stück weiter, bis wir die kleinen Felsen erreicht haben. Die Insel wird ja nicht von allen Seiten von Korallen umgeben sein. Irgendwo finden wir sicher einen Platz.“
In respektvollem Abstand umsegelte die „Isabella“ die tödlichen Riffe. Hasard ließ immer wieder Tiefe loten, denn es gab auch tückische Stellen im Meer, wo die Korallen wie scharfgeschliffene Dolche dicht unter der Wasseroberfläche lauerten. Mitunter waren es nur kopfgroße Stellen, aber sie hätten völlig genügt, das Schiff von vorn bis achtern aufzuschlitzen.
Gleich darauf wurde eine weitere Insel gesichtet. Sie lag südwestlich, war aber nur ein kleiner Punkt. Dicht hinter ihr schien eine weitere zu liegen, wie ein aus dem Meer ragender Buckel verriet.
Die große Überraschung folgte etwas später, als die „Isabella“ eine Landzunge gerundet hatte. Ihr folgte ein gerader Strand, üppig bewachsen mit undurchdringlichem Gebüsch, und dahinter, etwa eine Meile entfernt, lag ein Ort.
Hasard brachte im ersten Moment vor Verblüffung keinen Ton heraus. Die Bucht war tief eingeschnitten, und der natürliche Hafen wirkte fast wie ein Umschlagplatz für Güter aus aller Welt. Schon von hier aus waren die Masten von mindestens fünf anderen Schiffen zu erkennen. Dahinter waren Holzhäuser, zwei kleine, in der Sonne glitzernde Moscheen und eine längliche, aus Ziegeln erbaute Baracke. Es war keine Faktorei, eher ein Treffpunkt für Seefahrer verschiedener Nationen. Allem Anschein nach wurde dort auch gehandelt, geschachert und verhökert, wie es in kleinen Häfen dieser Art durchaus üblich war.
„Himmel, wo sind wir denn hier gelandet?“ fragte Ben Brighton erstaunt und kopfschüttelnd. „Dabei sah alles so einsam und verlassen aus!“
„Ja, das wundert mich auch. Ich habe noch nie etwas von diesen Inseln gehört“, erwiderte der Seewolf. „Aber andere sind anscheinend auch schon weit in der Welt herumgekommen.“
„Laufen wir den Hafen an, Sir? Oder willst du darauf verzichten?“ erkundigte sich Ben und warf einen schnellen Blick auf den Profos Carberry, der sich in Vorfreude auf bevorstehende Genüsse bereits die mächtigen Pranken rieb.
„Hier scheint jeder willkommen zu sein“, entgegnete Hasard. „Weshalb nicht auch wir? Natürlich laufen wir den Hafen an, schließlich wollen wir unsere Vorräte ergänzen.“
Er blickte zum Land, dem sie sich jetzt rasch näherten, und erkannte weitere Einzelheiten.
Eine Mole lief ein Stück ins Meer hinaus, die mit Sicherheit künstlich angelegt worden war. Man hatte große Steine transportiert und sie in das flache Wasser geworfen, bis sie einen langen Damm ergaben. Gestützt wurde das alles von einer weit ausladenden Korallenbank, die man als Mole geschickt ausgenutzt hatte.
Ein fleißiges Völkchen war hier offenbar am Werk, ein internationales höchstwahrscheinlich, und die hatten hier eine prächtige Anlage geschaffen.
Und alles ging friedlich zu. Ein Holländer hatte hier vor der Korallenbank geankert, an der Mole lag eine kleine portugiesische Galeone, weiter nach Backbord schien eine Karavelle direkt auf dem Sand zu liegen, und schließlich entdeckten sie einen arabischen Segler, eine Art Riesendau, aber von einer Bauweise, wie sie sie selbst im Mittelmeer noch nicht gesehen hatten.
Neben der Karavelle wurde ein neues Schiff gebaut. Es lag auf dem Trockenen, und eine Unmenge Leute war damit beschäftigt, Holz zu bearbeiten, Planken zu sägen und stabile Träger in die rechte Form zu bringen.
Männer mit weißen Turbanen werkten herum, dunkelgesichtige Männer schleppten Säcke an Bord der portugiesischen Galeone, und auch Europäer wirkten am Bau des Schiffes mit, das allerdings noch aus einem groben Gerippe bestand. Vermutlich handelte es sich um Holländer, die hier einen kleinen Stützpunkt errichtet hatten, um auf dem Weg nach Indien ihre Vorräte zu ergänzen.
Ganz weit hinten, wo sanfte Felsen anstiegen und gerade ein schauerartiger Regenguß niederging, wurde Wald gerodet. Der flackernde Schein eines leicht qualmenden Feuers war gerade noch zu erkennen. Einzelne Baumstämme hatte man bereits bis in die Nähe der Mole transportiert, wo sie neben dem Portugiesen im Wasser trieben.