Fierro hatte sich zum Rädelsführer aufgeschwungen, er war der starke Mann. Keiner zweifelte an seinen Entscheidungen, keiner versuchte, seinen neuen Rang in Frage zu stellen – auch der gerissene Vitaliano nicht, der von Fierros Führerrolle ebenfalls überzeugt war.
Immerhin hatte es Fierro inzwischen geschafft, Posten an den Schotten zur Kuhl und in Deckung des Geländers der achteren Back aufzustellen. Sie waren mit Äxten, Belegnägeln, Spillspaken, Bootshaken und Enterbeilen bewaffnet. Vitaliano und drei seiner Glücksritter-Kumpane verfügten überdies über Pistolen, zu denen ihnen die Munition vorläufig nicht mangelte. So gesehen, schien das Vordeck der „San Sebastian“ wahrhaftig uneinnehmbar zu sein.
Daß inzwischen auch an Bord der „Almeria“ eine erbitterte Auseinandersetzung stattfand, nahmen die Meuterer mit Erstaunen und Verwunderung zur Kenntnis. Sie verfolgten das Geschehen, sahen aber keine Möglichkeit, die drüben gegen das Achterdeck kämpfenden Aufrührer auf irgendeine Weise zu unterstützen. Noch hatte Fierros Bande selbst genug damit zu tun, die mühsam eroberte Stellung zu halten.
4.
Etwa zur selben Stunde gingen die „Pommern“ und die „Caribian Queen“ im westlichen Bereich der „Jardines de la Reina“, einer langgestreckten Inselgruppe im Süden von Kuba, vor Anker. Das mühsame Kreuzen gegen den Wind aus Osten wurde somit unterbrochen. Die Crews an Bord beider Schiffe atmeten auf.
Im Nachlassen des Sturmes war es Dan O’Flynn gelungen, näher an die „Pommern“ heranzusegeln und Hasard zu informieren. Dan hatte ein Problem. Die „Caribian Queen“, mit Proviant und Trinkwasser ohnehin nur mangelhaft versorgt, hatte im Sturm auch ihr letztes Wasserfaß eingebüßt. Es hatte sich aus seinen Zurrings gelöst und war an der Wand des Vorratsraumes zerschmettert. Somit wurde Nachschub dringend erforderlich. Ohne Essen konnten es die Männer eine Weile aushalten – ohne Wasser nicht.
Auf einem winzigen Eiland begaben sich Dan und vier seiner Männer auf die Suche. Nach gut einer Stunde wurden sie tatsächlich fündig: Im Inneren der Insel gurgelte und sprudelte eine Süßwasserquelle, deren Naß angenehm kühl und erfrischend war. Sofort knieten sie sich hin, schöpften es mit den Händen und tranken. Dann kehrten sie mit dem Beiboot zur „Caribian Queen“ zurück und holten die leeren Weinfässer.
Während die Fässer gefüllt und wieder an Bord des Zweideckers gemannt wurden, unternahm der Seewolf mit dem Beiboot der „Pommern“ einen Abstecher zur Nachbarinsel. Dan wollte hinter dem dicht wuchernden Dschungel, der sich im Zentrum der Insel über einige flache Hügel hinzog, Mastspitzen entdeckt haben. Durch das Spektiv ließ sich jedoch nichts Genaues erkennen. Deshalb hatte sich Hasard entschlossen, eine Inspektionsfahrt durchzuführen.
Seine Begleiter waren Renke Eggens, Ferris Tucker, Big Old Shane, Carberry und Smoky. Sie hatten Musketen, Tromblons, genug Munition, Flaschenbomben und Hasards Radschloß-Drehling an Bord und glaubten, somit gegen jede Art von unangenehmen Überraschungen gewappnet zu sein. Hasard als Bootsführer bediente die Ruderpinne, die beiden anderen pullten kräftig durch die schmale Passage zwischen den beiden Inseln.
Die „Pommern“ hätte hier nicht passieren können. Das Wasser war zu flach, wie sie durch Ausloten feststellten. Außerdem gab es Korallenriffs und Sandbänke in reichlicher Zahl, die das Manövrieren mit einem Schiff ebenfalls nicht zuließen. Man hätte nur die ganze Gruppe im Nordwesten runden und sich von der nördlichen Seite her der Insel nähern können, aber das hätte wiederum zuviel Zeit erfordert.
„Dan hat sich bestimmt nicht getäuscht“, sagte Hasard. „Aber ich glaube nicht, daß wir auf die Queen und Caligula mit ihren letzten Kumpanen stoßen. Das wäre denn doch ein zu großer Zufall.“
„Ich halte das auch für unwahrscheinlich“, sagte Shane. „Aber wir sollten dennoch nachsehen, um was für ein Schiff es sich handelt.“
„Vielleicht ein Geisterkahn“, brummte Carberry. „Wir nehmen eine Spiere davon als Andenken für Old O’Flynn mit. Er kann sie sich in seine Rutsche hängen, damit er was zum Spintisieren hat.“
Sie rundeten die westliche Seite der Insel und stießen wenig später in einer kleinen, idyllisch wirkenden Bucht an der nordöstlichen Seite auf das fremde Schiff. Es entpuppte sich als das Wrack einer Dreimast-Galeone.
Vorsichtig pullten sie in die Bucht. Hasard hatte den Radschloß-Drehling jetzt in den Händen und hielt ihn schußbereit. Aber nichts ereignete sich. Kein Mensch befand sich an Bord des Wracks, das halb nach Backbord gekrängt auf einer Sandbank festsaß. Es war verrottet und verlassen, tatsächlich haftete ihm etwas Unheimliches an, wie der Profos schon richtig vermutet hatte.
Die Untersuchung ergab, daß es sicherlich schon seit Jahren hier lag.
„Eine spanische Galeone“, sagte Hasard. „Wahrscheinlich hat sie seinerzeit in einem Sturm Zuflucht in dieser Bucht gesucht.“
„Dabei ist sie dann aufgebrummt“, fügte Ferris hinzu. Er war an Bord geentert und hatte sich die unteren Schiffsräume angesehen. „Sie ist dabei ziemlich ramponiert worden und in der Mitte auseinandergebrochen. Es lohnte wohl nicht mehr, sie zu bergen, die Reparatur wäre zu aufwendig gewesen.“
„Aha“, sagte Renke Eggens. „Darum hat der Kapitän sie aufgegeben. Er ist mit seinen Leuten in Beibooten nach Kuba übergesetzt. Später hat man wohl die Ladung abgeborgen.“
„Auch die Kanonen“, erklärte Ferris. „Und alles, was noch brauchbar war. Nur den hohlen Schiffsrumpf haben sie hier zurückgelassen.“
„Schlampig, die Dons“, sagte Carberry. „Sie hätten diesen Schandfleck ruhig ganz beseitigen können. Man läßt Galeonen nicht einfach so herumliegen.“
Hasard mußte unwillkürlich lachen. „Den Rest besorgt die Natur. Das Holz ist faulig und von Würmern zerfressen. Es ist nur noch eine Frage von Wochen oder Monaten, dann zerfällt der Kahn.“
Sie legten wieder von dem Wrack ab und landeten am weißen Sandstrand der Insel. Der Gründlichkeit halber suchten sie auch hier alles ab und drangen ziemlich weit ins Innere vor. Danach stand es fest: Die Insel war unbewohnt.
„Keine Spur von der Queen also“, sagte Smoky. „Es wäre ja auch zu schön gewesen. Ich würde was drum geben, zu erfahren, wo sie sich verkrochen hat.“
„Wir erfahren es schon noch“, sagte Hasard. „Vielleicht früher, als uns lieb ist.“
„Oder wir stoßen irgendwo auf ihre Leiche“, sagte der Profos. „Sie ist am Ende. Sie kriegt kein Bein mehr an Land, Sir. Wir wissen doch jetzt, wie es um sie bestellt ist.“
„El Tiburons Schuß hat sie nicht getötet, aber er hat sie für immer gezeichnet“, sagte auch Shane. „Davon erholt sie sich nicht mehr. Vielleicht geht ihr auch Caligula von der Fahne. Wen hat sie dann noch? Nur die vier zerlumpten, müden Halunken, die zu faul zum Kämpfen sind.“
Hasard war anderer Ansicht. Die Queen war zäher als alle anderen Gegner, mit denen der Bund der Korsaren bisher aneinandergeraten war. Und sie war unberechenbar. Früher oder später würde sie doch wieder auftauchen, davon war er überzeugt. Andererseits aber hatte es wenig Sinn, sich mit den abenteuerlichsten Vermutungen über das Schicksal der Queen abzugeben. Auf die Zukunft hatten sie ohnehin keinen Einfluß.
Die Männer verließen die Insel und pullten zur „Pommern“ und zur „Caribian Queen“ zurück. Hier berichteten sie, was sie gesehen hatten. Dan O’Flynn und die Männer des Zweideckers hatten unterdessen das An-Bord-Mannen der vollen Wasserfässer abgeschlossen. Die Reise konnte fortgesetzt werden.
Kurze Zeit darauf wurden die Anker gelichtet. Die Schiffe gingen wieder in See – mit Kurs auf die Schlangen-Insel.
Analog zu den Geschehnissen