Behutsam setzten sie einen Fuß vor den anderen. Trotzdem ließ es sich nicht vermeiden, daß sie gelegentlich Poltergeräusche verursachten, wenn sie gegen Steinbrocken stießen. Ohnehin hatten sie den Eindruck, daß ihre Schritte in dem Gang regelrecht dröhnten. Immer wieder blieben sie stehen, um nach fremden Geräuschen zu lauschen.
Ihre Befürchtungen erwiesen sich als überflüssig. Unvermittelt beschrieb der Gang eine scharfe Biegung nach rechts, und da war der lang ersehnte Lichtpunkt erkennbar.
Neue Hoffnung beflügelte die vier Menschen. Sie spürten die frische Luft, die ihnen entgegenwehte und den Modergeruch des Ganges zerstreute. Nach einer knappen Stunde, die ihnen wie eine Ewigkeit erschienen war, konnten sie wieder frei atmen.
Gebüsch tarnte die Öffnung des Geheimganges, die sich in einem bewaldeten Hang befand. Unten am Hang verlief ein Weg, der von Pferdehufen und Radspuren zerfurcht war. Daran angrenzend erstreckten sich in südlicher Richtung Felder, Wiesen und Waldstücke, so weit das Auge reichte.
Das trübe Licht ließ die Landschaft dennoch nicht freundlich erscheinen. Seit Wochen hatte sich kein Sonnenstrahl mehr über Havanna gezeigt. Cisca schmiegte sich erleichtert an Jorge, und Graciela ließ sich von ihrem Gefährten in die Arme nehmen.
In der südlich gelegenen Landschaft war nirgendwo auch nur eine Menschenseele zu erkennen. Kein Bauer, kein Knecht, keine Magd, die auf den Feldern oder vor einem der kleinen Bauernhäuser arbeiteten. Die Häuser wirkten verlassen. Die Unruhen in Havanna mußten sich auch bis hierher ausgewirkt haben. Viele waren geflohen – mit gutem Grund. Wenn der Pöbel in der Stadt nicht mehr genug zu essen fand, würde er über das umliegende Land herfallen.
Raimundo deutete mit einer Kopfbewegung nach oben, zur Nordseite des Hanges.
„Ich werde mal dort nach dem Rechten sehen“, sagte er. „Wirst du es schaffen, beide Damen zu bewachen?“
Jorge nickte und lachte.
„Ich werde mich bemühen“, sagte er augenzwinkernd. „Obwohl ich natürlich weiß, daß es leichter ist, einen Sack Flöhe zu hüten.“
Cisca und Graciela wollten lautstark protestieren, aber Jorge ermahnte sie zur Ruhe, indem er gebieterisch den Zeigefinger hob.
„Das ist sehr einfach!“ flüsterte Cisca mit gespieltem Vorwurf. „Erst behauptet man etwas Unverschämtes, und dann verbietet man dem anderen einfach das Wort.“
„Unsereiner kann das noch“, sagte Raimundo mit einem leisen Lachen. „Aber wie viele geknechtete Ehemänner würden uns darum beneiden!“
Er beeilte sich, aus dem Bereich der Gangöffnung zu verschwinden, denn die beiden jungen Frauen sahen nun wirklich aus, als wollten sie sich auf ihn stürzen, um ihm die Augen auszukratzen.
Er stieg den Hang hoch und hielt dabei die Säbelscheide fest, um kein verräterisches Geräusch hervorzurufen. Wie angebracht diese Vorsichtsmaßnahme war, zeigte sich wenig später.
Oberhalb des Hanges befand sich eine gerodete Waldfläche, auf der Baumstämme in noch ungeordnetem Durcheinander lagen. Nördlich davon, höchstens eine halbe Meile entfernt, begann das Häusermeer von Havanna. Raimundo staunte im ersten Moment, daß nirgendwo eine Rauchsäule zu erkennen war. Bei ähnlichen Ausschreitungen hatte er erlebt, daß der Mob den verhaßten Bürgern den roten Hahn aufs Dach setzte. Hier, in Havanna, schienen sie bei allem Chaos zielstrebiger vorzugehen.
Sie wollten Beute. Und die erhielt man nicht, wenn man alles verbrannte.
Er tat einen Schritt vorwärts und erstarrte im selben Augenblick. Vor seiner rechten Stiefelspitze war ein menschliches Bein, auf das er um ein Haar getreten wäre. Das Bein lugte hinter einem Baumstamm hervor und war von zerlumptem, dreckstarrendem Tuch umhüllt.
Vorsichtig bewegte sich der Gardist zur Seite, dann lautlos vorwärts, so daß er hinter den Baumstamm blicken konnte.
Seine Augen weiteten sich. Regungslos verharrte er.
Fünf Kerle lagen dort, in trautem Beieinander, im Windschutz des gefällten Baumes. Sie hatten sich in Decken gehüllt. Weinkrüge lagen umgekippt neben den Resten eines Feuers. In der Asche waren angekohlte Geflügelknochen zu erkennen.
Beute schienen die Kerle nicht bei sich zu haben. Möglicherweise hatten sie ihr Diebesgut irgendwo vergraben. In Zeiten des totalen Chaos mußten die zweibeinigen Hyänen darauf bedacht sein, sich das einmal Gestohlene nicht von ihresgleichen wieder entreißen zu lassen.
Raimundo Tejero wollte sich abwenden, um die anderen zu warnen. Wenn man sich leise genug verhielt, konnte man sich unentdeckt entfernen. Fünf Galgenstricke aus dem Schlaf zu reißen, war alles andere als ratsam.
Einer der Kerle erwachte, ohne daß der Gardist sich bewußt war, ein lautes Geräusch verursacht zu haben. Ein struppiges Bartgesicht fuhr halb hoch, verzog sich zu einer Grimasse, und mißtrauische Augen blinzelten.
Im nächsten Moment entdeckte der Kerl den hochgewachsenen Gardisten. Ein Warnschrei entrang sich der Kehle des Struppigen.
Raimundo Tejero zog den Säbel. Das metallische Geräusch beendete den Schrei des Kerls.
Er fuhr hoch, schleuderte die Decke von sich und brachte ein Entermesser zum Vorschein.
„Jorge!“ brüllte Tejero und drang im selben Atemzug auf den Kerl ein.
Mit zwei blitzschnellen Hieben fegte er dem Galgenstrick das Entermesser aus der Hand, und er tötete den Mann, ohne ihn erst einen Angstschrei ausstoßen zu lassen.
Die anderen erwachten in dieser Sekunde. Knurrende Laute waren zu hören. Einer versuchte, nach den Stiefeln des Gardisten zu greifen und ihn zu Fall zu bringen. Rechtzeitig, mit einem federnden Satz, wich Tejero aus.
Sein Gefährte stürmte den Hang herauf, den Säbel bereits gezogen. Beiden Männern war klar, daß sie einen Schuß und auch möglichst jedes sonstige Geräusch verhindern mußten.
Gnade war nicht angebracht.
Raimundo und Jorge erinnerten sich nur zu gut an das, was sie zu Beginn des Aufruhrs erfahren und mit eigenen Augen gesehen hatten. Die Marodeure waren gegen Bürger, Gardisten und Soldaten mit List und Tücke vorgegangen, hatten sie in Hinterhalte gelockt oder sie mit Schüssen in den Rücken getötet. Maßstäbe von Ritterlichkeit waren hier nicht anzuwenden, sie kosteten nur das eigene Leben.
Einen Kerl mit vom Alkohol geröteten Gesicht brachte Tejero mit einem Fußtritt von den Beinen, als der Bursche gerade aufgesprungen war und erstaunlich schnell ein Tromblon hochriß, das er neben sich liegen gehabt hatte. Tejero tötete ihn, bevor er sich herumwerfen und die Waffe im Liegen in Anschlag bringen konnte.
Jetzt aber waren die übrigen drei hochgeschnellt.
Zwei wandten sich dem heranstürmenden Jorge Vero zu.
Der dritte ging mit einem Säbel auf Raimundo Tejero los.
Den ersten Angriff ließ der Gardist mühelos an seiner Parade abprallen. Hell singend klirrten die Klingen aufeinander. Die Sekunde, in der sein Gegner noch über den Mißerfolg fluchte und knurrte, nutzte Tejero und griff jäh an. Der Marodeur schaffte es nicht mehr rechtzeitig, in die Defensive zu gehen. Tejero setzte ihn außer Gefecht – rechtzeitig genug, um seinem Gefährten noch zu Hilfe zu eilen.
Nur für einen kurzen Moment war Jorge in Bedrängnis geraten. Im Handumdrehen schafften die beiden Männer es nun, die Schnapphähne niederzustrecken. Es war kein einziger Schuß abgefeuert worden.
„Verschwinden wir schleunigst!“ sagte Raimundo Tejero dennoch. „Wer weiß, wieviel von dem Pack noch in der Nähe schnarcht.“
Sie eilten zu den beiden jungen Frauen, und gemeinsam nahmen sie den Weg nach Süden, wobei sie stets den Schutz von Gebüsch und kleinen Waldstücken nutzten. Längst waren sie sich über ihr Ziel einig. In Santiago de Cuba wollten auch Graciela und Cisca ihre