Von diesem letzteren Umstand wußte in der Residenz niemand. Keine Patrouille drang mehr bis in die Hafengegend vor. Das Stadtgebiet war zum Feindesland geworden. Niemand aus den Reihen der Bürger, aber auch keiner der Soldaten oder Gardisten nahm das Wagnis auf sich, zu einer Erkundung der Lage aufzubrechen. Man rechnete stündlich mit dem ersten Angriff des entfesselten Pöbels. Hinter den Umfassungsmauern der Residenz waren Waffen und Munition bereitgestellt worden, und die Wachen lösten sich in zweistündigem Wechsel ab.
Nahezu unbeachtet von den vielen Menschen, die jetzt die Residenz bevölkerten, verbrachte ein fuchsgesichtiger kleiner Mann die Tage des Terrors im Bürotrakt des Palasts. Corda, der Sekretär des derzeit nicht existenten Gouverneurs, erschien auch seinen engsten Mitarbeitern völlig verändert, in sich zurückgezogen. Corda hatte begonnen, eine „Chronik des Untergangs der Stadt Havanna“ zu verfassen. Minutiös schilderte er die Geschehnisse seit dem Erscheinen der reitenden Boten aus Santiago de Cuba, die ihm die Nachricht vom Tod des Generalkapitäns de Campos überbracht hatten.
Ob seine Chronik jemals gelesen werden würde, war für den füchsischen Sekretär alles andere als sicher. Im Hintergrund seiner Überlegungen stand jedoch nach wie vor jenes Ziel, das er nach der Todesnachricht zu erreichen versucht hatte. In seinen schriftlichen Schilderungen war der zu jenem Zeitpunkt im Gefängnis einsitzende Alonzo de Escobedo rechtmäßiger kommissarischer Gouverneur von Havanna.
Er, Corda, hatte versucht, de Escobedo zu diesem Amt zu verhelfen. Seinen Aufzeichnungen zufolge war er von Gefängnisdirektor Cámpora daran gehindert worden, und de Escobedo hatte keine andere Wahl gehabt, als unterzutauchen, um sich dem Zugriff des verbohrten Cámpora zu entziehen, der ihn nach wie vor als rechtmäßig inhaftiert betrachtete.
Für Corda war es keineswegs ausgeschlossen, daß de Escobedo nicht doch noch die Macht in Havanna übernahm. Unter der Herrschaft des Pöbels war die Stadt in der Tat dem Untergang geweiht. Wenn aber der starke Mann erschien, der die Lage in den Griff bekam, würde er dankbar sein für einen vermeintlichen treuen Vasallen. Unter diesem starken Mann stellte sich Corda niemanden anders als de Escobedo vor, der bestimmt nur vorübergehend in der Versenkung verschwunden war.
Wenn er sich aber eines Tages zum Stadtoberhaupt und letztlich zum Gouverneur aufschwingen würde, dann würde Corda ihm in besagter Treue zur Seite stehen. Und der gute de Escobedo würde in seinem Machtrausch überhaupt nicht merken, daß er weiter nichts als eine Marionette war.
Mit jeder Zeile, die er zu Papier brachte, war Corda fester davon überzeugt, daß er eines schönen Tages doch noch die Rolle der grauen Eminenz spielen würde, von der er so sehr geträumt hatte.
Dann würde jener Traum wahr werden, in dem er der wahre Herrscher über Havanna und Kuba war – hinter den Kulissen.
2.
Es war ein feuchtkaltes Gewölbe, in dem sich vier Menschen seit nicht mehr gezählten Tagen verborgen hielten. Während der ganzen Zeit hatten sie nur flüsternd miteinander gesprochen, denn sie wußten, daß ein lautes Wort wie Donner aus dem angrenzenden unterirdischen Gang zurückhallte.
„Unsere Vorgesetzten in Santiago werden uns für Deserteure halten“, sagte Raimundo Tejero.
Sein Kamerad lachte kaum hörbar.
„Und leider sind wir nicht wichtig genug“, murmelte Jorge Vero, „daß sie wegen uns einen Suchtrupp in Richtung Havanna losschicken.“
„Und das alles haben wir euch eingebrockt“, hauchte Cisca Duarte, die sich eng an Jorge schmiegte.
Graciela Bonardo nickte bekräftigend.
„Wenn wir darauf bestanden hätten, abends rechtzeitig nach Hause gebracht zu werden, wären wir von dem Pöbel nicht überrascht worden.“
„Unsinn“, sagte Raimundo leise und dennoch energisch. „Das Haus eurer Dienstherrin dürfte nur noch als Ruine bestehen. Und wir sollten alle vier froh sein, daß wir noch am Leben sind.“
„Fragt sich nur“, fügte Jorge bitter hinzu, „wie lange das noch so bleibt. Oder hast du eine Ahnung, wie wir aus unserem selbstgewählten Verlies freikommen wollen?“
Sein Gefährte sah ihn an. Das züngelnde Licht warf fließende Schatten auf die Gesichter der beiden Männer. Seit von oben, aus der Kirche, keine Geräusche mehr zu hören waren, hatten sie es riskiert, die Fackeln in den schmiedeeisernen Halterungen anzuzünden.
Raimundo Tejero deutete auf den gut mannshohen Gang, der von dem Kellergewölbe abzweigte.
„Wenn ich die Orientierung nicht verloren habe, führt dieser Gang nach Süden. Und die Kirche befindet sich in der Nähe des südlichen Stadtrandes.“
„Das stimmt!“ sagte Graciela und nickte.
„Ein geheimer Fluchtweg?“ fragte Jorge Vero.
„Wir sollten nicht zuviel erhoffen“, erwiderte Cisca. „Bestimmt stammt der Geheimgang noch aus der Zeit, als Havanna entstand. Damals war die Stadt klein. Vielleicht endet der Gang heute unter irgendeinem Haus – zugeschüttet oder verrammelt.“
„Wie auch immer“, sagte Raimundo lächelnd, „wir werden es nicht herausfinden, indem wir langatmig darüber reden. Nur durch Taten kommen wir weiter.“
„Das ist ein Wort“, sagte Jorge. „Ich hatte eigentlich nicht vor, ausgerechnet in dieser schönen Stadt begraben zu werden. Geht einer allein, oder gehen alle gemeinsam?“
„Kein Zeitverlust“, sagte Raimundo und blickte die jungen Frauen fragend an.
Cisca und Graciela nickten. Die beiden Männer nahmen je eine Fackel aus den Eisenringen. Raimundo ging voran, sein Gefährte blieb am Schluß. Beide Männer verfügten über ihre Säbel und Pistolen sowie über Pulverflasche und Kugelbeutel, die sie am Gurt trugen.
Mit Cisca und Graciela verband sie längst mehr als jene anfängliche lockere Beziehung, die im gemeinsamen Spaziergang durch das abendliche Havanna bestanden hatte. Sie hatten sich öfter getroffen, und Raimundo und Jorge hatten ihre Rückkehr nach Santiago de Cuba hinausgezögert. Dann waren sie zu viert in die Wirren des Aufstands geraten und hatten vor der Übermacht des Pöbels fliehen müssen.
Mit knapper Not hatten sie sich in die kleine Kirche gerettet, die von dem Geistlichen offenbar bereits aufgegeben worden war. Hinter dem Altar hatten sie die rettende Luke gefunden. Wie durch ein Wunder war die Kirche von den Plünderern bisher weitgehend verschont geblieben.
Zwar waren von Zeit zu Zeit lärmende Horden in das Gotteshaus gestürmt und hatten offenbar nach Gold, Silber und Edelsteinen Ausschau gehalten. Ihre Beute konnte jedoch nicht groß gewesen sein, da es sich nicht um eine der großen, reich ausgestatteten Kirchen von Havanna handelte.
Seit Stunden war von draußen nichts mehr zu hören gewesen. Es mußte folglich Tag geworden sein. Die beiden Gardisten aus Santiago de Cuba hatten längst festgestellt, daß sich der Pöbel tagsüber zur Ruhe begab, nachdem die Nacht mit Plünderungen und wüsten Ausschweifungen verbracht worden war. Wenn es keine Chance gab, durch den unterirdischen Gang in die Freiheit zu gelangen, blieb nur die Möglichkeit, es durch die Kirche zu versuchen.
Was das bedeutete, war den beiden Männern klar. Obwohl sie tagelang im Verborgenen gelebt hatten, konnten sie sich doch sehr gut vorstellen, wie es in der Stadt aussah. Allein hätten sie es eher riskiert, sich durchzuschlagen. Doch für Cisca und Graciela war die Gefahr zu groß. Die Kirche zu verlassen und durch die Stadt zu fliehen, würde der allerletzte Ausweg sein.
Der Gang, dessen Quadersteine vor Feuchtigkeit glitzerten, verlief schnurgerade. Mehrere Male gab Raimundo Tejero das Zeichen zum Verharren. Dann verdeckte er die Fackel, um nach einem fernen Punkt