Auf dem Weg versenkte sie den zerbrochenen Protektor im Mülleimer. Dabei warf sie einen verstohlenen Blick über ihre Schulter. Er musste gezögert haben, aber er folgte ihr mit langen Schritten und holte auf.
***
Melli, ihre Freundin, war wie erhofft im Dienst und reichte ihr einen Pott Kaffee, ohne die Bestellung abzuwarten.
„Wenn du schon ein blaues Auge hast, wie sieht dann dein Gegner aus?“, fragte Melli auch prompt.
„Groß, weiß und unversehrt. Es war keine Absicht.“
Der Mann neben ihr stieß ein unbestimmbares Knurren aus und Charly sah zu ihm auf. Er trug den gleichen besorgt wirkenden Gesichtsausdruck wie Melli, nur dass ihr Anflug von Schuld bei ihm durch Aggression ersetzt wurde.
„Es war ein Pferd“, seufzte sie. „und er hat sich erschreckt.“
Charly umriss die Ereignisse. Ab und zu warf sie einen schnellen Blick zu dem Fremden. Mit einer seltsamen Wachsamkeit blieb er an ihrer Seite, weit genug entfernt, dass sie es nicht als aufdringlich empfand, aber nahe genug, dass sie sich eigenartig geschützt fühlte.
Mit einem leichten Heben der linken Augenbraue schnellte Mellis Blick zu ihm. ‚Kennst du ihn?’, hieß das.
Unschlüssig hob Charly halb die Schultern und deutete ein Kopfschütteln an.
Melli nickte unauffällig.
Charly trank ihren Kaffee aus, signalisierte noch ein baldiges Telefongespräch zu Melli, verabschiedete sich mit einer kurzen Entschuldigung in Richtung des Fremden und schritt weit ausgreifend zu ihrem Motorrad. Als sie losfuhr, hob der dunkelhaarige Motorradfahrer lässig grüßend die Hand. Sie grüßte zurück.
An der Ausfahrt passierte sie eine blau-weiße Fireblade.
‚Die würde ich auch gern mal über die Rennstrecke jagen’, dachte sie. ‚Ob Dad bald einen Renntermin hat? Der letzte liegt schon einige Zeit zurück.’
Just Met a Man – Anouk
Gereon bog auf den Parkplatz des Motorradtreffs ab und fuhr suchend durch die Reihen, bis er die Maschine seines Freundes gefunden hatte. Er stellte die Fireblade daneben und holte sich vom Kiosk einen Kaffee. Die weitere Suche blieb ihm erspart; sein Freund hatte es sich auf der Bank daneben bequem gemacht und hob träge grüßend die Hand.
Er trat zu ihm, klopfte ihm auf die Schulter und gratulierte den üblichen Summs von Gesundheit, Glück, Erfolg, lalala zum Geburtstag. Dann stutzte er. „Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“
„Anraunzer bekommen“, war Christians einsilbige Antwort.
„Von wem?“, fragte er weiter, ohne sich beeindrucken zu lassen.
„Einem Mädel.“
‚Das gibt’s nicht! Das muss eine seltene Erscheinung sein’, dachte er. „Hier?“ Seine Augenbrauen schnellten nach oben. Ohne es richtig zu bemerken, ließ er den Blick abschätzend über die verschiedenen Grüppchen schweifen.
„Ist eben weggefahren.“
Christians Haltung war eine Nuance zu wegwerfend. Gereon hörte auf, in seinem Kaffee zu rühren und betrachtete ihn eingehend. „Erzählst du es mir freiwillig, oder muss ich dir jeden Satz aus der Nase ziehen?“
Statt einer Antwort stand sein Freund auf, ging zum Kiosk und sprach einige Zeit mit der Bedienung. Noch brummiger und mit einem weiteren Kaffee kam er zurück und schilderte, was sich ereignet hatte. Er deutete mit dem Kopf zum Tresen. „Sie will mir weder den Namen noch die Telefonnummer ihrer Freundin sagen.“
„Wie sieht sie aus? Was fährt sie? Hast du das Kennzeichen?“, fragte er langsam und deutlich, als spräche er mit einem geistig Minderbemittelten. „Dann halte ich mit die Augen offen.“
„Hübsch. Motorrad. Nein“, antwortete Christian knapp. „Aber danke. Wie war es in Berlin?“
‚Oha! Entweder hat sie einen Nerv getroffen oder er hat sich prompt in sie verguckt. Ich lasse ihn lieber in Ruhe, bis er bessere Laune hat. Vielleicht morgen Abend, nach dem ersten Bier.’ Er berichtete seinerseits, dann hingen sie beide ihren Gedanken nach.
Christian erhob sich als Erster. „Wir sehen uns morgen.“
„Klar, Party! Lasse ich mir doch nicht entgehen“, zwinkerte Gereon ihm zu.
Zu verkaufen ein schneeweißes Brautkleid – Jürgen Renfordt
Charly gönnte sich zunächst auf der Pottensteiner Strecke ein paar Kurven, zum einen, um ihre Gedanken aufs Fahren zu konzentrieren, zum anderen, um die Begegnung mit ihrer Mutter noch ein wenig hinauszuzögern. Schließlich aber fuhr sie doch auf der Autobahn zügig nach Süden. Wenigstens war die Wohnung ihrer Mutter im Norden Münchens und recht weit außerhalb, so dass sie vor Einbruch der Dunkelheit ankam. Sie stellte das Motorrad ab und hörte den Türöffner brummen, noch ehe sie abgestiegen war. ‚Ungeduldig wie immer’, ärgerte sie sich und verdrehte die Augen.
Gitta erwartete sie im Atelier.
„Sag nichts! Es war ein Pferd!“, begrüßte sie ihre Mutter und legte ihren Helm ab.
Die zog die Augenbrauen hoch. „Hoffentlich ist es in zehn – nein, neun – Tagen wieder weg!“
Charly konnte sich ein teuflisches Grinsen nicht verkneifen. „Dann hat deine Make-up Artistin wenigstens eine Herausforderung.“
Ihre Mutter sah hilfesuchend gen Himmel, beließ es aber dabei. „Kann’s losgehen?“
„Ja.“ Charly schälte sich aus der Textilkombi und ließ sich in eines der Kleider helfen. Die nächsten Stunden vergingen mit unablässigem An- und Ausziehen.
Ihre Mutter konnte sehr anstrengend sein, aber hier im Atelier, zwischen ihren Entwürfen, den edel schimmernden Stoffen und der punktuellen Beleuchtung, kurz, in ihrer Welt, war sie glücklich und ausgeglichen. Und sie, Charly, liebte es, in den ausgefallenen oder verträumten, aber immer eleganten Kreationen ihrer Mutter vor dem Spiegel zu stehen und sich wie eine Prinzessin zu fühlen, während deren schlanke, kühle Finger an ihr herumzupften, Falten und Nähte arrangierten und Maße absteckten. Ein Rausch aus Taft, Tüll und Seide, der sie oft noch die nächsten Tage begleitete.
Zwischendrin orderte ihre Mutter Pizza, weil man Charly ja ‚nirgends mit hinnehmen konnte, so wie sie aussah’. Ihr war es recht. Sie zog die cremeweiße Atelier-Prinzessinnenwolke jedem Münchner Szeneschuppen vor.
***
Nach nur vier Stunden Schlaf fuhr Charly wieder gen Norden. Der Arbeitstag verging ruhig, sie inspizierten eine neue Arbeitsstelle, ein kleines Schlossensemble, das umfangreich instand gesetzt werden sollte. Einem frühen Feierabend stand nichts im Wege.
So saß sie bereits um kurz nach zwei wieder im Sattel, auf dem Weg nach Chemnitz. Diesmal ließ sie sich Zeit, kurvte über Landstraßen durchs Fichtelgebirge, überdachte auf einer ausgiebigen Wiesenrast die vergangene Woche und schmiedete Pläne, machte noch einen Umweg, damit sie in einem kleinen, guten Restaurant essen konnte und fuhr erst im Licht der untergehenden Sonne auf den großen Hof vor der Werkshalle, die ihrem Vater als Lager, Werkstatt und Wohnung diente.
Sie begrüßte ihren Vater und Steven, dann wanderte sie ziellos durch die Halle und begutachtete die verschiedenen Fahrzeuge, die in unterschiedlichsten Stadien ihrer Wiederherstellung entgegensahen. Ganz rechts, im Übergang zum Lagerbereich, stand der Unimog. Die beiden Männer ließen sie in Ruhe.
Raindrops Keep Fallin’ on My Head – B.J. Thomas
„Dein Protektor