Es wäre aber genauso denkbar, dass die ersten Mitstreiter erhebliche Zweifel an der Funktionsfähigkeit unserer AmtsGenossenschaft bekommen haben. So wie ich gestern auch.
Aber ich will von vorne beginnen! Ich radelte heute Morgen also als erstes hinunter zu dem kleinen Supermarkt, um ein paar der aussortierten Lebensmittel für mich zu ergattern. Schon von weitem sahen meine entsetzten Augen, dass der komplette Lebensmittel-Berg neben dem Müllcontainer bis auf das letzte Stück bereits abgetragen war.
Aktuell wühlten so vier bis sechs Personen hektisch im Container, um auch aus diesem noch alles herauszuholen, was brauchbar erschien. Es handelte sich dabei aber nicht etwa um zerlumpte Obdachlose, sondern um ganz normale, eher gut gekleidete Bürger.
Verflixt, da scheinen die ersten nach nicht einmal einer Woche schon Hunger zu leiden, was meine eigene Essensbeschaffung ab sofort extrem verkomplizieren wird; das ist mir bei diesem Anblick schmerzlich klar geworden. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich hasse es, wenn sich die abgedroschenen Phrasen meiner Mutter bewahrheiten!
Reichlich demotiviert und deprimiert traf ich anschließend bei meinen Leidensgenossen ein. Die diskutierten gerade darüber, weshalb eigentlich neuerdings ein solch penetranter Gestank über der Stadt liegt. Die Mülltonnen werden doch schließlich auch im Normalbetrieb nur alle 14 Tage geleert, ein Totalausfall der Müllabfuhr kann somit wohl kaum alleine der Grund für diese Geruchsbelästigung sein. Nicht im Februar.
Meiner miesen Stimmung gemäß warf ich einfach in äußerst sarkastischem Tonfall ein einziges Wort laut vernehmlich in die Runde: »Scheiße!«
Peter entglitt nachsichtig ein schwaches Lächeln. »Klar ist das eine ziemliche Scheiße! Aber trotzdem, wo kommt bitteschön dieser beißende Gestank her?«, versuchte er die Diskussion sachlich fortzusetzen und blickte fragend in die Runde.
Ich beharrte: »Sag ich doch gerade! Es ist Scheiße, die ihr hier riecht, jedenfalls hauptsächlich. Alles, was im Abwasserkanal halt so landet. Oder habt ihr etwa geglaubt, die Pumpen der Kläranlage würden nach dem Tag X noch funktionieren? Das riesige Klärbecken ist von hier aus … hm … nur so ungefähr zwei Kilometer weit entfernt!«
Damit war die Ursache hinreichend geklärt; gleichzeitig stand fest, dass wir mit dem Gestank weiterhin leben müssen und dass er sich vermutlich noch beträchtlich verstärken wird, sobald sich die Lufttemperatur im Frühjahr erhöht und zusätzlich der Inhalt der vollgestopften Bio-Mülltonnen kompostiert und unter ständiger Freisetzung von übelriechenden Gasen vor sich hin fault.
»Okay, dann wollen wir mal die Ergebnisse von gestern bekannt geben«, ging Peter nahtlos zur Tagesordnung über. Gleich zu Anfang musste ich für Gruppe 1 davon berichten, wie schwierig es in Zukunft wahrscheinlich werden wird, sich Lebensmittel zu besorgen. Dass es uns beim besten Willen nicht gelungen ist, entsprechende Möglichkeiten zu finden. Jedenfalls nicht, ohne Straftaten zu begehen.
»Genau das habe ich befürchtet!«, nickte Peter. »Da werden wir uns etwas anderes einfallen lassen müssen, wir diskutieren später noch drüber. Aber erst einmal wollen wir hören, was die anderen Gruppen erreichen konnten.«
Gruppe 2 war es gelungen, die Besitzer von drei weiteren Fahrzeugen zu finden, welche keinerlei Elektronik-Bauteile aufweisen und somit nach dem EMP noch fahrbereit sind. Man hatte sich darauf geeinigt, Gespräche über den sinnvollen Einsatz dieser alten Autos zu führen. Sie sollen künftig beispielsweise dann zum Einsatz kommen, wenn größere Gegenstände transportiert werden müssen oder längere Strecken zurückzulegen sind; Krankentransporte wären ebenso möglich wie gelegentliche Besorgungsfahrten auf dem Land.
Hausmeister Klaus hat überdies das Gespräch zweier Soldaten mitangehört, die sich eifrig darüber austauschten, dass die Bundeswehr zumindest über einzelne puristisch gebaute Jeeps verfügt, die einwandfrei funktionieren. Außerdem gedenkt man offensichtlich ausrangierte Museums-Panzer aus dem zweiten Weltkrieg zu reaktivieren, um die Straßen damit frei zu räumen. Schließlich blockieren überall noch die mitten in der Fahrt liegen gebliebenen Autos, Busse und Lastwagen die Zufahrtswege.
»Das ist doch schon mal besser als gar nichts!«, brummte Peter und bat Gruppe 3 um ihren Bericht. Klaus holte tief Luft und erzählte, wie er mit seinem Mustang auf verschiedenen Strecken versucht hatte, ohne Blechschaden aus der Stadt zu kommen, zunächst aber ohne Erfolg.
Viel zu viele aufgegebene Fahrzeuge stehen auf den Straßen herum und verhindern ein Durchkommen. Schweren Herzens musste Klaus deshalb seinen liebevoll restaurierten Mustang über unebene Feldwege holpern lassen, ansonsten hätte er die Mission von vorneherein abbrechen müssen.
Sie kamen nach einigen Umwegen und Irrfahrten durch den Wald bis nach Kulmbach und erfuhren in unserer Nachbarstadt im Grunde nicht mehr, als wir ohnehin schon wussten: Man geht auch dort von einem EMP aus, hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll und ob nur ein begrenztes Gebiet von den Auswirkungen betroffen ist. Kulmbach hat es jedenfalls auch erwischt.
»Na schön, dann müssen wir wohl geduldig abwarten, ob Informationen von weiter draußen irgendwann bis hierher durchdringen!«, resignierte Peter.
»Aber wenigstens habe ich gute Neuigkeiten für euch! Mit der Gruppe 4 habe ich ein paar nützliche Gegenstände aufgetrieben. Ihr müsstet euch nur schnell mit dem Gedanken anfreunden, dass wir künftig aus praktischen Gründen in einer Art Camp leben sollten, wo Privatsphäre nicht mehr allzu groß geschrieben wird!« Peter erklärte uns, dass Klaus morgen mit seinem Mustang eine ganze Menge an Ausrüstungsgegenständen abholen könne. Seine Schwester führe nämlich in Erlangen ein kleines Geschäft für Besucher von Mittelaltermärkten, die sich dort an der historischen Lebensweise orientieren, in einfachen Gewändern herumlaufen und ein paar vorsintflutliche Tage ohne technische Hilfsmittel verbringen wollen. Sie habe einfach alles im Angebot, was man für ein Überleben ohne Strom benötige. Weil ihr Ladengeschäft in Erlangen jedoch sehr klein sei, lagere sie zu unserem Glück vieles hier in Bayreuth in einer geräumigen Garage, welche einem gemeinsamen Freund gehöre.
»Nun ja, und dort bin ich vorhin zu Fuß mit der Gruppe 4 gewesen. Wir haben das Schloss aufgebrochen und neugierig nachgesehen, was das Lager an Brauchbarem enthält. Ich bin vollkommen sicher, dass meine Schwester hiermit einverstanden wäre, wenn sie davon wüsste. Bis nach Erlangen zu fahren, um sie vorher zu fragen, hätte sie uns sowieso nicht zugemutet. Neuerdings ist das eine halbe Weltreise!
Was soll ich euch sagen? Früher habe ich jeden belächelt, der freiwillig dieses archaisch anmutende Zeug benutzte; oft erzählte meine Schwester begeistert witzige Anekdoten. Zum Beispiel, wie sie sich während der Mittelalter-Camps im Wald selber Donnerbalken bauten und sich den Hintern mit Blättern säuberten. Ich hielt das für eine amüsante Vorstellung, wie sie da alle aufgereiht sitzen und ihr Geschäftchen erledigen.
Aber jetzt? Wir sind selber nicht mehr weit von solchen Handlungsweisen entfernt, nicht wahr?«, schmunzelte Peter.
Klaus meldete sich zu Wort. »Und was genau wäre da morgen abzuholen? Brauche ich den Hänger?«
»Kann nicht schaden!«, nickte Peter. »Wir holen uns einen riesigen Kochkessel samt dreibeiniger Aufhänge-Vorrichtung, Feuerkörbe, einen Badezuber nebst großen Holzeimern, zerlegbare Zelte und ein paar andere Kleinigkeiten, wie zum Beispiel wärmende Schaffelle.«
»Zelte und Badezuber? Wozu brauchen wir das denn, wir haben doch alle Wohnungen mit Badewannen? Und selbst wenn wir uns dazu entschließen sollten, hier in einer Gemeinschaft zu leben – ein festes Dach über dem Kopf, Teeküchen und ein bisschen Komfort hätten wir dann auf jeden Fall!«, warf die Vorzimmerdame des Steueramts verwundert ein. »Da müssen wir doch nicht leben wie unzivilisierte Wilde!«
Peter seufzte; er schätzt es nämlich überhaupt nicht, wenn jemand sich beharrlich weigert, selbst nachzudenken und das Offensichtliche