Anders als die Zahl der Religionen, die sich eher vermehren, ist die Zahl der Sprachen in Globo in den letzten Jahrhunderten zurückgegangen.35 Das geht unmittelbar mit einer Konzentration der Sprachen einher, wobei Mehrsprachigkeit in Globo trotzdem verbreitet ist. Das gilt – was vielleicht überraschen wird – vor allem in seinen ärmeren Teilen, wo viele Menschen selbstverständlich vier oder mehr Sprachen sprechen. In den reicheren Teilen sind die Menschen zwar oft zweisprachig, selten aber mehr. Dabei sind diese Sprachen meist die jeweilige Muttersprache und Englisch, die lingua franca des Dorfes und vor allem seines Wirtschaftslebens, die vermutlich von mehr als einem Drittel der Bevölkerung zumindest verstanden wird.36
Wackelige Alterspyramiden
Mit Bezug auf das Alter ist eine ebenso problematische wie erfreuliche Entwicklung in Globo zu diskutieren. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt liegt derzeit bei rund 68 Jahren (70 für Frauen und 65 für Männer).37 Dieser Durchschnittswert hat sich im 20. Jahrhundert vermutlich nahezu verdoppelt, im Weiler Europa ist die Lebenserwartung der Menschen in dieser Zeit um rund drei Monate pro Jahr gestiegen.38 Je nach Weiler präsentiert sich das erreichte Lebensalter recht unterschiedlich, optimistische Schätzungen gehen aber davon aus, dass es sich angleichen wird, nicht zuletzt, weil sich die medizinische Versorgung in den benachteiligten Regionen verbessern wird. So könnte sich die durchschnittliche Lebenserwartung im Weiler Afrika von ca. 53 Jahren im Jahr 2000 auf rund 67 Jahre bis 2050 erhöhen, während sie in Europa „nur“ von 74 auf 82 Jahre steigen dürfte.
Trotz dieser demographischen Umwälzung sieht die Bevölkerungspyramide von Globo noch relativ stabil aus. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber wachsende Disparitäten, die zu den versteckten, aber zugleich sehr problematischen Trends im Dorf gehören. Das vielleicht dramatischste dieser Ungleichgewichte ist die „Apartheid“ der Geschlechter, denn der weibliche Teil der Bevölkerungspyramide wird immer schmäler. Ein zweites ist das sich verschlechternde Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Menschen, denn der obere Teil der Pyramide wird immer größer. Insgesamt wird sie damit schief und kopflastig und verdient daher immer weniger ihren Namen.
Dazu kommt noch verschärfend, dass es um die Altersversorgung in Globo insgesamt schlecht bestellt ist. Nur etwa 20 Menschen haben überhaupt Zugang zu irgendeiner Form von öffentlich finanzierten Pensionen oder Renten, der Rest ist im Alter vollkommen auf die eigene Vorsorge, einen Familienverband oder Almosen angewiesen. Die Finanzierung einer flächendeckenden Altersversorgung wäre dabei angesichts der steigenden Lebenserwartung überall im Dorf eine besondere Herausforderung. So verknüpfen sich in den optimistischen Prognosen (selbst für den Weiler Afrika, aber auch für Globo als Ganzes) mehrere schwer vereinbare Vorstellungen: Dass die Menschen immer älter werden, dass sie sich außerdem besserer Gesundheit erfreuen und dass sie zudem ab einem gewissen Alter ohne zu arbeiten ihren Lebensunterhalt bestreiten können, mag wünschenswert sein, ist aber illusorisch – zumindest unter den derzeit herrschenden Bedingungen.
Das wird durch einen weiteren Aspekt verschärft, der nicht nur die Finanzierbarkeit staatlicher, sondern auch familiärer Altersversorgung in Frage stellt: Das Verhältnis der Anzahl an Personen im „arbeitsfähigen“ Alter (also von 15 bis 64 Jahren) und der Anzahl an älteren Personen (also ab 65 Jahren) wird sich erheblich verändern. Es liegt derzeit in Globo bei ca. 9 zu 1 (also 9 arbeitsfähigen Menschen, die einem nicht mehr arbeitsfähigen Menschen gegenüber stehen), soll aber bis 2050 auf 4 zu 1 sinken. Noch viel prekärer wird diese Situation im Weiler Europa, wo dieses Verhältnis schon heute nur noch 5 zu 1 beträgt und bis 2050 auf 2 zu 1 sinken wird. Dazu kommt noch, dass ja nicht nur die Altersversorgung finanziert, sondern auch eine teils beträchtliche Zahl an Kindern erhalten werden muss, und dass zudem „arbeitsfähig“ zu sein noch lange kein Einkommen bedeutet (gar nicht zu reden davon, ob es angemessen wäre, worauf spätestens im Kapitel 6 zurückzukommen sein wird).
Dabei stellt sich schließlich noch eine Frage, die ins nächste Kapitel überleitet. Es ist nicht nur interessant, wie Menschen trotz unterschiedlicher kultureller und religiöser Hintergründe miteinander auskommen und wie sie – vor allem zwischen den Generationen – füreinander aufkommen, sondern natürlich auch, wie viele Menschen Globo eigentlich verkraften kann. Dazu gibt es über die Jahrhunderte viele Berechnungen, von denen einige bereits widerlegt sind (weil schon heute deutlich mehr Menschen in Globo leben, als einst für maximal möglich gehalten wurde) und andere demnächst den Härtetest erfahren. Freilich diskutieren die wenigsten dieser Schätzungen auch die unverzichtbare Zusatzfrage: Wie viele auf welchem Niveau? Auf dem niedrigen Niveau der ärmeren Teile des Dorfes sind erheblich mehr möglich als auf dem Niveau der reichen, wobei damit aber noch nichts über die Nachhaltigkeit dieser Lebensstile ausgesagt sein soll. Der bereits erwähnte Dennis Meadows bezog in einem aktuellen Interview zum Klimawandel auch zu dieser Frage Stellung: „Es wird zwar eifrig diskutiert, was man gegen den Klimawandel tun kann, aber Bevölkerungswachstum und Lebensstandard werden nicht angerührt. So, als brauchten wir eine Lösung des Klimaproblems, die Reichen erlaubt, ihren Lebensstandard zu halten, und Armen erlaubt, zu den Reichen aufzuschließen. Das ist pure Fantasie. Das wird nie passieren.“39
Diese Frage nach dem möglichen Lebensstandard – stets verbunden mit der Frage nach der Gerechtigkeit, wenn auch oft unausgesprochen – wird sich von nun ab durch dieses Buch ziehen.
Kapitel 2: Wirtschaft
Ausmaß und Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Wandels während des Anthropozän finden im Archiv von Globo keine angemessenen Vergleiche. Es wäre daher vorrangige Aufgabe des Dorfchronisten (das war fast sicher immer ein Mann, was wohl nicht ohne Einfluss darauf war, was aufgezeichnet wurde), auf diese Niveauverschiebung immer und immer wieder hinzuweisen. Bislang scheint die Botschaft aber bei zu wenigen Bewohnerinnen und Bewohnern angekommen zu sein, geschweige denn, dass daraus Konsequenzen gezogen würden. Der kritische Sozialwissenschaftler und Begründer der evolutionären Ökonomik, Kenneth E. Boulding, ist diesbezüglich hingegen eindeutig: „Wer glaubt, exponentielles Wachstum kann auf einem begrenzten Planeten für immer fortschreiten, ist entweder ein Schwachkopf oder ein Ökonom.“, soll er einmal gesagt haben.40
Erdbewegungen
Der erste Blick auf die „Wirtschaft“ soll darauf gerichtet sein, wie die Menschen in Globo durch ihre ökonomischen Tätigkeiten den Ort physisch verändert haben. Dabei handelte es sich vor allem um landwirtschaftliche Aktivitäten, denn historisch lebten die Menschen im Dorf nahezu ausschließlich auf dem und vom Land – was letztlich sogar noch für das 20. Jahrhundert gilt.
Die auffälligste Veränderung in Globo während des Anthropozän war die Umwandlung von Wald, Waldland und Grasland in Weideund Ackerland. Noch um das Jahr 1700 bestanden rund 94 Prozent der gesamten Grünfläche aus Wald und Grasland, lediglich 6 Prozent (rund 9 Hektar) wurden schon gezielt für Weide- bzw. Ackerzwecke genutzt. Heute hingegen sind kaum noch 60 Prozent der Grünfläche von Wald und Grasland bedeckt und auch dieses Land ist kaum mehr unberührt. Vor allem war es der Wald, auf den die Menschen quasi als natürliche Rückversicherung im Laufe der Geschichte immer und immer wieder zurückgreifen konnten. Sie tun das weiterhin – und nicht nur in den ärmeren Teilen von Globo, wo Holz eine der wichtigsten Energiequellen