Nun gilt es aber, in ein Panoptikum globaler Lebensrealitäten einzutauchen, das von der Bevölkerung über die Landwirtschaft, die Energie, den Verkehr, die Arbeitswelt und den Konsum bis zu den größten Bedrohungen und aktuellen Herausforderungen führen wird. Die Darstellung ist dabei bewusst dem Konzept des „Globalen Lernens“17 verpflichtet, indem sie auf vielfältige Weise zum gemeinsamen Entdecken der Welt einladen will, vor allem einer Welt außerhalb des für viele der Leserinnen und Leser gewohnten Horizonts. Was sich dabei entfaltet, ist ein neues, ein globozentrisches Weltbild.18
Kapitel 1: Bevölkerung
Am Anfang war … der Mensch?
Die Beschreibung von Globo soll mit seinen Menschen beginnen. Hier hat sich gerade im Anthropozän ein fundamentaler Wandel ereignet. Im Jahr 1825 lebten in Globo nämlich gerade einmal 18 Menschen, davon nur 4 im Weiler Europa. Das war jene Zeit, als der englische Pastor und Ökonom Thomas Robert Malthus seinen Essay on the Principles of Population geschrieben hat.19 Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass diese Bevölkerung kaum mehr wachsen könne, weil es der Nahrungsmittelmangel sowie damit verbundene Krankheiten und Konflikte in Bälde nicht mehr zulassen würden. De facto begann die Dorfbevölkerung damals erst richtig zu wachsen, und was in weitere Folge über die Unvergleichbarkeit vieler Entwicklungen in den letzten 200 Jahren festgehalten wird, gilt in gleicher Weise und ganz grundlegend schon für die Zahl der Menschen. Verglichen mit den vorangegangenen zwei Jahrtausenden beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum in den letzten zwei Jahrhunderten etwa um den Faktor 12. Das bedeutet z.B., dass die Globo-Bevölkerung heute alle drei Jahre um die gleiche Anzahl an Menschen zunimmt, wie insgesamt während der ersten 1.500 Jahre christlicher Zeitrechnung.
Diese gewaltige Umwälzung hat den Wirtschaftshistoriker Gregory Clark dazu veranlasst, die Flucht aus der „Malthusianischen Falle“ für den entscheidenden Moment in der Weltwirtschaftsgeschichte zu halten.20 Dazu passt auch der Befund, dass vor zwei Jahrhunderten nahezu alle Menschen in Globo auf dem (und vom) Land lebten, während das heute für nicht einmal mehr die Hälfte zutrifft. Die andere Hälfte wohnt immer mehr in städtischen Behausungen: schon 54 Menschen im Jahr 2008, wahrscheinlich bereits 80 (von dann 130) im Jahr 2030, während es um 1900 erst 4 (von damals 27) waren.21
Zur Ehrenrettung von Malthus muss man freilich festhalten, dass er eine gute Zustandsbeschreibung der Welt vor 200 Jahren abgegeben hat, während er die Umwälzung der Grundlagen der menschlichen Existenz, obwohl sie sich zu seinen Lebzeiten vollzog, letztlich gar nicht als solche wahrnehmen konnte. Malthus hatte andere wissenschaftliche Probleme zu lösen: Er musste z.B. noch Kritiker überzeugen, die nicht wahrhaben wollten, dass bei prekärer Versorgungslage geringere Geburtenraten die Überlebenschancen der Geborenen erhöhen und daher insgesamt besser für die Bevölkerungsentwicklung sind. Gerade an diese „Bedingtheit“ von Erkenntnis zu erinnern, ist wichtig, denn vieles erschließt sich erst in der Rückschau. Bereits in der Vorausschau Kenntnis über die Zukunft zu erwarten wäre hingegen auch von Geistesgrößen viel verlangt.
Globo-Demographie
Zurück aber in die Gegenwart: Im Globo des Jahres 2000 leben 50 Frauen und 50 Männer. Bei den Kindern überwiegt in zunehmendem Maße die Zahl der Buben jene der Mädchen, während sich im Alter das Verhältnis der Geschlechter umkehrt.22 Pro Jahr werden mindestens zwei Kinder geboren und ein Mensch stirbt, weshalb die Bevölkerung bis heute (Stand Anfang 2010) bereits auf 112 Menschen gestiegen ist. Bis 2050 sollen es etwa 150 sein, möglicherweise aber auch mehr, geschätzt werden bis zu 180.23 Die Expertinnen und Experten hoffen, dass das Wachstum danach zum Stillstand kommen wird. Im Weiler Europa wird das bereits früher eintreten und die Bevölkerung dürfte im Jahr 2050 bereits geringer sein als heute.
Entsprechend diesen Trends nahm auch die Bevölkerungsdichte in Globo zu und stieg relativ zur besiedelbaren Fläche von 19 Personen pro km² im Jahr 1950 auf 45 im Jahr 2000, wobei sich die Menschen vor allem im Weiler Europa und in Teilen des Weilers Asien ballen. Diese Dichte wird weiter steigen (denn die Fläche nimmt in Globo ja nicht in relevantem Ausmaß zu), ebenso wie die damit verbundenen Unterschiede. Ein Grund dafür ist, dass von den 26 Frauen, die 2005 zwischen 15 und 49 Jahre alt waren und die in einer Partnerschaft lebten, nur 14 eine moderne Verhütungsmethode anwandten.24 Daher ist möglicherweise eines der zwei jedes Jahr geborenen Kinder in diesem Sinne „ungeplant“. Zudem kommt nach fundierten Schätzungen fast jedes Jahr noch ein drittes Kind dazu, das abgetrieben wird.25 Doch auch für die beiden geborenen Kinder ist der Start oft schwierig: jedes dritte kommt ohne professionelle Hilfe zur Welt26 und 40 % von ihnen existieren eigentlich gar nicht, weil es keine urkundlichen Aufzeichnungen über ihre Geburt gibt.27 Wer aber nicht „existiert“, hat letztlich auch keine Rechte.
Das Durchschnittsalter der Menschen in Globo betrug im Jahr 2000 26,6 Jahre. Dieser Wert gibt nicht den Mittelwert an, sondern den Median: die Hälfte der Menschen sind also jünger und die andere Hälfte älter. Dieser Durchschnitt wird aber jedenfalls steigen und soll 2050 bereits bei 38,4 Jahren liegen.28 Das deutet einen demographischen Wandel schon an, auf den noch ausführlicher zurückzukommen sein wird: Noch gibt es nämlich erheblich mehr Kinder (unter 15 Jahren) als Seniorinnen und Senioren (ab 65 Jahren) – nämlich 30 verglichen mit nur 7 –, dieses Verhältnis wird sich in den nächsten Jahrzehnten aber zugunsten der älteren Menschen verschieben.
Dass jemand in Globo sein Heimathaus auf Dauer verlässt, ist übrigens – vielleicht entgegen der Wahrnehmung – die ganz große Ausnahme. Fast alle bleiben dort, wo sie geboren sind, und die wenigen, die wandern, bleiben meist im selben Weiler. Alles in allem sind nur 3 Menschen in ganz Globo wirklich „ausgewandert“.29 Die Zahl derer, die aus anerkannten Asylgründen auf der Flucht sind (dazu zählen Krieg, politische Verfolgung oder Diskriminierung, nicht hingegen, dass das Leben durch Armut oder Umweltzerstörung bedroht ist), reicht hingegen nicht annähernd aus, um die Wahrnehmungsschwelle in Globo zu überschreiten.30 Das heißt aber noch lange nicht, dass nicht auch in Globo viele Menschen Diskriminierungen erdulden müssen oder Vertreibung erleiden. Besonders betroffen sind z.B. jene 5 Personen, die als „indigen“ bezeichnet werden, also „Eingeborene“.31 Sie sind oft sogar rechtlich benachteiligt.
Hier haben noch zwei interessante statistische Anmerkungen Platz, die allerdings auch die Grenzen des Gedankenexperiments Globo ausreizen: Zum einen lebte vor der neolithischen Revolution statistisch gesehen eigentlich niemand im Dorf. Erst die Landwirtschaft hat es ermöglicht, die menschliche Bevölkerung auf 1 und darüber zu „steigern“, wobei sich dieser „statistische Moment“ vermutlich erst vor etwa 3.000 Jahren ereignet hat.32 Zum anderen wird immer wieder die Frage gestellt, wie viele Menschen bislang eigentlich insgesamt gelebt haben. Eine präzise Beantwortung dieser Frage ist angesichts der unsicheren Angaben über vergangene, eigentlich aber auch über gegenwärtige Bevölkerungszahlen zwar letztlich nicht möglich, die vielleicht beste fundierte Schätzung ergab aber – umgelegt auf Globo – etwa 1.750.33
Zwei allzu menschliche „Missverständnisse“
Zwei Aspekte der Globo-Demographie, die aktuell wie historisch Anlass für viele „Missverständnisse“ im Dorf waren, sind Religion und Sprache. Vor allem die Religion ist zugleich jenes Thema, bei dem die Datenlage besonders unsicher ist.34 Würde man die Angaben der verschiedenen großen Religionsgemeinschaften über die Anzahl ihrer