Der Vorsitzende des Heimat- und Trachtenvereins von Klüsserath sei ins Gefängnis gekommen, führt Muscheid weiter aus, weil er auf dem Dachboden eine illegale Schnapsbrennerei betrieben hat. Dafür gäbe es im weiten Umkreis kein Verständnis, d.h. für die Brennerei schon, für die Strafe jedoch nicht. Es folgt die etwas heikle Geschichte eines Landrats aus der Pfalz, der eines Abends seinen Fahrer schon nach Hause geschickt hatte und bei der Rückfahrt von irgendeinem geselligen Beisammensein ein eher drängendes menschliches Bedürfnis verspürte, und während er diesem nachging, merkte er, dass er die Handbremse im Dienstwagen nicht angezogen hatte. Beim Sprint muss er gestolpert und unter den Wagen geraten sein, schreckliche Geschichte, er trug neben einer Beinfraktur einen Haarriss am Schädel davon und konnte wegen seines hohen Promillegehaltes – der böse Volksmund hatte seinem Nachnamen stets den Begriff „Schoppe“ vorangestellt – in der Klinik nicht narkotisiert werden, weswegen alle Rettungsversuche vergeblich bleiben mussten. Ein pfälzisches Schicksal, bemerkt Sascha Muscheid eher trocken, um diese Geschichte schließlich etwas salbungsvoll mit einem Bibelspruch zu beenden, aus Johannes 15,5: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“
Muscheid mag kein ernsthaft ersprießlicher Reisegefährte sein, aber immerhin ist er ein Reisegefährte und in seiner Eigenschaft als Weinkönig ein wandelndes Lexikon. Die Kulisse, die sich draußen vor dem Auge des Betrachters entfaltet, könnte passender nicht sein. In Flussnähe zwar Hochwassererwartungsland, aber die Hänge sind voll gestellt mit Holzstecken, stachelig-punkig, wie ein überdimensionaler Igel. Wie heißen diese Dinger noch gleich, die an diesen Stecken stecken, mit grünen Blättern dran? Ah, richtig: Weinbrandbohnen. Wie erwähnt, das Scherzhafte ist nicht sein Metier.
In Wittlich steht ein Sonderzug mit dem etwas sonderbaren Namen www.euro-strand.de. Eine junge Frau, die Flasche mit dem Pfirsichsekt in der rechten Hand, die Linke auf dem Fensterrand, spuckt in hohem Bogen aufs Festland. Muscheid wendet sich ab.
Muscheid: „1971 fing das Elend an der Mosel an, mit dem Anbau billiger Rebsorten, die hatten mehr Alkohol und waren leichter zugänglich. Ganz früher zählte Moselwein zu den Spitzenprodukten, der schlechte Ruf war dann lange nicht aus den Köpfen herauszukriegen.“ Oft seien die Namen nicht unbedingt ermutigend, werfe ich ein, ich denke da an den „Enkircher Batterieberg“, den würden doch viele gleich mit der Energiekrise in Verbindung bringen. Vielleicht sollte man auch einmal über innovative Marketingstrategien nachdenken.
Muscheid: „Angesichts des unveränderten Trends zu esoterischem Schnokus haben wir Weinmeditationen angeboten, die sind von hohem Erholungswert, weil eine überwiegend denkaktivitätsfreie Zone. Ein weiteres Problem ist allerdings, dass ein Großteil des Weins systematisch im Land vernichtet wird, damit er anderswo keinen Schaden anrichtet!“
Nun, die Schweizer halten das genauso, und von den Franzosen weiß man, dass sie ja auch ihre besten Käsesorten lieber im Land vertilgen, bevor sie sie den „boches“ überlassen.
Muscheid: „Die Moselbahn wurde seinerzeit als Kanonenbahn gegen die Franzosen installiert. Tucholsky hat sich weiland über das ‚Saufbähnchen‘ von Bullay nach Trier ausgelassen. Heutzutage würde so ein Bähnchen sicher ‚Mosel-Saar-Groover‘ heißen.“ Er sagt tatsächlich: Weiland.
Kurzer Einwurf: „Heißt nicht längst das ganze Anbaugebiet nur Mosel?“
Muscheid zuckt die Achseln. Vielleicht ist es auch ein Schluchzer.
Unser Zug fährt durch den Prinzenkopftunnel, Zell lassen wir links liegen. Dort gibt es eine Kulturinitiative, die sich Seitwärts/Aufwärts nennt, und keiner weiß zu erklären, ob das mit der traditionellen Rivalität der moselanischen Längs- und Querschiffahrt zu tun hat oder ob sich Seitwärts/ Aufwärts auf die Fortbewegungsweise der Moselmanen nach Weinfesten bezieht. Die abstrusesten Geschichten über die Schifffahrt, die herzliche Feindschaft zwischen den Zellern und den Kaimtern oder die Rivalitäten unter Winzern vermag virtuos Uli Stein zu erzählen, ein Winzer aus dem Städtchen mit dem schönen Ortsnamen, der selbst Amerikanern ein Lächeln ins Antlitz zaubert: Alf. Sein Haus Waldfrieden verfügt über einen einzigartigen Veranstaltungsraum, ein Rondell hoch über der Doppelstockbrücke über die Mosel (unten Autos, oben der Zug – wie in Amerika), von dem man den Fluss gleich zweimal sehen kann. Innerhalb der Mittelmoselgemeinden, so Uli Stein, gälten die Alfer als Schlawiner, in den Tag hinein lebende Faulenzer, wie Steinbecks Charaktere in Tortilla Flat. Ewig erinnerlich ist mir ein schmales Schaufenster, in dem neben zwei Herrenoberhemden und einer Marienfigur auch zwei Flaschen Underberg standen.
Als in Ehrang die Türen aufspringen, strömt sehr heiße Luft ins Abteil. Das Klima an der Mosel – „Deutschlands nördlichstem Süden“ – ist römisch-mediterran. Die französischen Soldaten, im Volksmund „Bären“ genannt, wurden hier auf Tropentauglichkeit getestet. Damit die Einheimischen ihr Glück, in dieser von Natur und Geschichte so verschwenderisch ausgestatteten Region leben zu dürfen, nicht allzu deutlich im Gesicht tragen, um so den Neid der Nachbarvölker auf sich zu ziehen, haben sie den Viez erfunden – ein Apfelweingetränk mit 13 g/l Säure. In Trier ist fast alles schwarz, selbst das Wahrzeichen, die Porta Nigra. Schwarz scheint auch die Zukunft des jungen Mannes zu sein. Deshalb kann ich es kaum erwarten, die Moselmetropole zu erreichen, denn dort werde ich eine Pause einlegen und versuchen, Sascha Muscheid abzuschütteln. Er mag zwar Reisegefährte sein, aber längst ein ermüdender, und seine Niedergeschlagenheit birgt Ansteckungsgefahr. Auf dem Bahnsteig wirbt eine Tafel für Kümmerling – „der sanfte Bitter“. Dieser Begriff ließe sich ebenso gut auf Muscheid anwenden. Ich mag ihm gar nicht sagen, dass er in Cochem auf dem falschen Gleis eingestiegen ist, denn dieser Zug fährt nach Saarbrücken, und von da muss er sich durchs Nahetal durchschlagen, um nach Mainz zu kommen. Das zieht sich. Über Koblenz wäre das schneller gegangen. Aber vielleicht haben sie ja an der Nahe Bedarf an einem Weinkönig – Publicity brächte das allemal.
Die Terrassenmosel
Mit Terrassenmosel wird der etwa 100 Flusskilometer lange untere Talabschnitt der Mosel zwischen Pünderich und Koblenz bezeichnet. Im Karbonzeitalter vor 350 Millionen Jahren wurde das Rheinische Schiefergebirge gehoben, aufgefaltet und im wahrsten Sinne des Wortes „gestylt“. Im Tertiär begann dann die Ausformung der heutigen Mosellandschaft. In den letzten 500.000 Jahren hob sich das Gebirge weiter, die Einschnitte der Mosel wurden tiefer als die im Sozialwesen des 21. Jahrhunderts. Die Berge wurden schiefer, die Bewohner schräger.
Ob nun die Kelten oder die Römer mit dem Weinbau begannen, darüber streiten sich die Gelehrten. Für die Kelten spricht: Sie hassten die Jagd, denn die blöden Viecher wollten einfach nicht stillhalten. Die Trauben aber wuchsen sozusagen ohne besonderes Zutun, man musste einfach zuwarten. Sie machten einen Reifeprozess durch, Menschen wie Trauben, was auch die These untermauert, dass das Trinken die Menschen sesshaft gemacht hat und nicht etwa die Nahrungsaufnahme, zumal die Kelten nach einem veritablen Kater absolut keinen Bock auf blödsinniges Gerenne hatten. Außerdem gibt es Essen to go, Wein aber eher selten, und wenn, dann mit einem gewissen Stigma behaftet. Noch ein Punkt für die Kelten: Der Name der Weinpresse ist – Kelter. Für die Römer spricht: Den Römer kennt man als Trinkgefäß für Wein. Es begab sich in Albis, später Alf, als Legionäre eines Abends ihre Lanzen in den Boden rammten, um sich einem Gelage hinzugeben. Als dieses nach bereits sieben Tagen endete, waren die Lanzen sozusagen umrankt von Reben. Anscheinend hatten die Pflanzen schon seit Dezennien im Boden gelauert und nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Um den Transport der flüssigen Nahrung zu optimieren, bauten die Römer in Bullay den ersten Umweltbahnhof überhaupt. Außerdem forschten sie unentwegt nach tauglichen Methoden, Glühwein herzustellen, denn sie froren erbärmlich trotz des Mittelmeerklimas und waren ständig erkältet. Wieso sie dann aber Weißwein anbauten, bleibt schleierhaft. Die Kelten suchten lediglich nach Möglichkeiten, besoffen zu werden. In manchen Lagen wuchs ein leider säuerlicher Wein, den man immerhin bei der Haarentfernung anwenden konnte.
Fest steht: Die Moselterrassen gehen auf die Tausenden von chinesischen Kulis zurück, die Mitte des 19. Jahrhunderts beim Bau der Moselbahn beschäftigt worden waren und unbedingt Reis anpflanzen wollten. Aus ihrer Heimat Longsheng kannten sie nur den Terrassenbau, und die