Bunsenstraße Nr. 3. Dietmar Schmeiser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar Schmeiser
Издательство: Bookwire
Серия: Lindemanns
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783881908443
Скачать книгу
hockten meist im Kreise herum, und mich in der oberen Etage des Bettes konnte man schlecht zwingen, die Augen zu schließen. Merkwürdigerweise gab es im Luftschutzkeller viel zu lachen. Auch wenn ich dieses Lachen heute anders deute, damals fand ich es lustig im Keller. Geärgert hat mich eigentlich nur, dass ich die Witze des Professor Bresch nicht verstand. Immer wieder haben die Frauen aufgelacht, und ich wusste nicht, warum und schon gar nicht, weshalb gerade an dieser Stelle zu lachen war. Manchmal habe ich mitgelacht, um erwachsen zu erscheinen.

      Der Leser wird fragen: „Passierte sonst gar nichts, außer dass der Professor die Damen unterhielt?“ Zunächst geschah meist wirklich nichts. Die feindlichen Verbände hatten sich eine andere Stadt vorgenommen, und für Karlsruhe wurde Entwarnung gegeben.

      Mein fixer Herr Milch wirkte im Hintergrund weiter. In der Bunsenstraße stehen meistens zwei Häuser aneinandergebaut. Dann kommen jeweils die freien Seiten mit den Hauseingängen und dem Zugang zum Garten. So hatten auch wir ein Nachbarhaus, an das sich das unsere lehnte. Die beiden Häuser standen auf Grundmauern, die einen Meter dick waren. Durch diese Grundmauern wurde ein niedriger Fluchtgang geschlagen, für den Fall, dass wir verschüttet werden sollten. Dieser Gang war auf beiden Seiten mit hochkant gestellten Ziegeln zugemauert worden. Pickel hatte man für den Notfall daneben zu stellen.

      Herr Milch erkannte sehr wohl die bösen Absichten des Feindes. Die Kellerluken der Nachbarhäuser, die nicht wie bei uns unter einem großen Balkon verborgen waren, erhielten schwere Betonhäuschen angebaut oder zumindest Betonklötze vorgesetzt. Bei uns hingegen wurde der ganze Balkon abgesprießt und Sand gegen flüssigen Phosphor vorgeschüttet. Dass diese Schutzmaßnahmen oft nichts taugten, ahnte ich. Wen der Phosphor nicht verbrannte, dem nahm er die Atemluft. Auch noch nach dem Krieg wurden die schlimmsten Geschichten erzählt, auf welch verschiedene Weise die Menschen im Keller elend oft nach stundenlangem Todeskampf ihr Ende fanden. Eine besondere Furcht hatten wir Kinder vor diesem Phosphor entwickelt. Es hieß, dass speziell die Engländer Phosphorkanister abwerfen würden. Dieser Phosphor entzünde sich von alleine. Von ihm erst einmal bespritzt, nutze es nichts, brennend ins Wasser zu springen und unterzutauchen. Beim Auftauchen entzünde er sich wieder. In unserer Vorstellung war dies die grausamste Weise, uns zu töten.

      Herr Milch hatte da wohl noch differenziertere Vorstellungen, in welcher Weise man nach unserem Leben trachten könnte. So wurden auch von uns Kindern Aktivitäten zum Schutz unseres Lebens erwartet. Die harmloseste Übung war, die im Keller bereitgelegten Tücher anzufeuchten und umzubinden. Das sollte nach Sprengstoffangriffen die Lungen vor Staub schützen. In schlimmer Erinnerung hingegen habe ich einen Aufruf, sich Gasmasken anpassen zu lassen. Mutter, mein Bruder und ich hatten uns, ich meine, an der Kaiserallee, in einem ehemaligen Gasthaus einzufinden. Dort wurden Gasmasken entsprechend der Kopfgröße ausgegeben. Gemeinsam mit meiner Mutter sollten wir deren Gebrauch zu Hause üben.

      Ich glaube, Mutter hatte auch Angst vor dieser Übung, was sich auf uns übertrug. Man stelle sich die dicken, sehr stramm anliegenden Gummihäute vor, die unseren Kinderköpfen angepasst über den ganzen Schädel und bis weit unters Kinn gezogen wurden. Das pfetzte und drückte ganz ordentlich und zu allem Überfluss wurden diese hässlichen, grünen Häute noch über dem Hinterkopf festgeschnallt. Durch die kreisrunden Fensterchen konnte ich meinen Bruder erkennen und mir vorstellen, wie hässlich und gespenstig auch ich aussehen musste. Es drückte am ganzen Schädel. Das Schlimmste kam aber noch. Auf das runde Loch vor meinem Mund schraubte Mutter jetzt das große Filter, über das ich mit meinen Bullaugen gerade noch wegsehen konnte. Jetzt meinte ich, in meiner Gummimaske ersticken zu müssen. Verzweiflung kam auf. Durch meinen Ohrschutz hörte ich Mutter brüllen. Fest ziehen! Ich zog Luft ein, so gut ich konnte. Nur schwer drang sie durch das Filter. Ich rang nach Luft. Hastig stieß ich sie wieder aus. Die Luft entwich durch ein Ventil über meiner Nase. Das war eine Art gequetschter Gummischlauch, der einige Zentimeter lang war und nur unter Innendruck wabbernd die Atemluft ins Freie entließ. Beim Einatmen schloss sich diese Gumminase wieder, und das Filter war an der Reihe. Ich zog aus Leibeskräften die Atemluft abermals ein, was nur sehr mühsam gelang. Schlimm war es, meinen kleinen Bruder sehen zu müssen, der genau so angstvoll nach Luft rang. Meine Mutter stand daneben – ich erinnere mich noch gut – es war am Küchentisch – und hatte auch diese grässliche Gasmaske übergezogen. Wir sahen aus wie ekelhafte Tiere, die nach Luft schnappten. Meine Mutter brach die Übung bald ab, und wir mussten sie nicht wiederholen.

      Ersparen wir uns auszumalen, es wäre Gas abgeworfen worden. Geworfen wurden wir in den Feuerofen. Vollalarm. Es war so weit. Die Witze von Herrn Bresch verstummten. Zunächst Totenstille. Dann das fürchterliche, dumpfe Brummen der Flugzeuge. So dicht war die Luftschutztür des Herrn Milch nun auch wieder nicht! Wir hörten das Krachen der Granaten der naheliegenden Flak und dann das fürchterliche Heulen der Bomben, die Detonation und spürten den Luftdruck. Ich lebe noch. Andere mögen zerfetzt sein und tot. Ich nicht! Die Lampe schwankte an der Decke. Wir mussten uns alle flach auf den Boden legen, und die Bomben heulten wieder. Serien von Explosionen, das Licht erlosch, und Frau Bresch begann, laut ein Vaterunser zu beten. Der Boden vibrierte bei jedem Einschlag heftig. Pause ... und vergib uns unsere Sünden ... Niemand betete laut mit.

      Ich wollte es nicht wahrhaben, dass es so ernst ist. Frau Bresch übertreibt! Wieder das Heulen. Wieder schwankender Boden. Alle schwiegen. Nur Frau Bresch betete laut. Und dann kam nichts, nur Dunkelheit. Ob die zum Schluss Gas werfen, um wirklich alle umzubringen, die nicht verbrannt oder zerrissen worden waren? Muss ich in der Dunkelheit meine grässliche Gasmaske aufziehen? Das Licht begann wieder zu flackern. Mutter weinte nicht, ich auch nicht. Mein Bruder schlief. Vielleicht war es so besser. Meine verdammte Neugier.

      Nach einer unendlichen Stille wieder eine Detonation, ohne jedes Vorzeichen. Ein Blindgänger, dem es erst jetzt einfiel zu explodieren? Dann heulten wieder Bomben. Alle stürzten wieder zu Boden. Frau Bresch begann ein Gegrüßest-seiest-Du-Maria.

      Irgendwann war Entwarnung geblasen worden. Ich war sehr müde. Wir gingen in die Wohnung zurück. Wir schliefen in jenen Tagen alle im großen Elternschlafzimmer. Ich in Vaters Bett, mein Bruder im Kinderbettchen. In das konnte er jetzt nicht gelegt werden. Aus dem Kamin war eine Rohrabdeckung durch den Luftdruck herausgeschleudert worden, zusammen mit einer Fontäne von Ruß, die sich über Edwins Bett ergossen hatte.

      Es war im frühen Herbst des vierten Kriegsjahres gewesen, als dieser schwere Angriff der Royal Air Force besonders heftig die Weststadt getroffen hatte. In der Körnerstraße sei eine Luftmine detoniert, die so schwer wie ein ganzer Lastwagen gewesen sein soll. Die Engländer hätten eine neue Methode entwickelt: Den Bomberverbänden würden sie spezielle Suchflugzeuge voranschicken, die strahlendhelle Leuchtmarkierungen absetzten, wonach sich die Bombenschützen richten könnten. Die Erwachsenen schämten sich nicht, sie als Christbäume zu bezeichnen.

      Zum Nikolaustag waren für Karlsruhe wieder Christbäume gesetzt worden. Unser Herr Milch hatte aber vorgesorgt. Neue Flaks seien aufgestellt worden, die so viele Engländer abgeschossen hätten, dass der Rest schnell das Weite gesucht habe.

      Manchmal haben wir auch unsere drei Flakgeschütze am Tag nach solch einem Bombenangriff aufgesucht. Diese standen unweit vom Ende der Bunsenstraße in den Schrebergärten. Wir haben nachgeschaut, wie viele Flugzeuge sie in der vergangenen Nacht abgeschossen hatten. Das konnte man ganz einfach erkennen. Für jeden Abschuss malten die Soldaten einen weißen Ring um das Flakrohr, und wir zählten ... heute Nacht wieder drei Abschüsse. Herr Milch wird uns noch mehr Flaks geben müssen.

      Weihnachten 1942 verlief ruhig. Vater war nicht nach Hause gekommen, hatte aber ein wunderschönes Geschenk, das unter unserem Christbaum seine Runden drehte: Eine Uhrwerkeisenbahn von Märklin. Eine Lokomotive mit Tender, Personen-, Gepäck- und Niederbordwagen, der einen Panzer geladen hatte, zog ihre Runden auf einer Gleisacht.

      Ein fast ruhiges Kriegsjahr folgte, in dem fleißig gewerkelt wurde: Weiße Pfeile wiesen auf die Luftschutzräume hin, Wegweiser zu künftigen Verschütteten. Große Bassins für Löschwasser wurden gebaut und die Sandsäcke auf den Dachböden vermehrt.

      Im sechsten Kriegsjahr folgten viele schwere Angriffe. Die Engländer hatten den Todesfächer entwickelt, den sie mehrfach über Karlsruhe ausbreiteten; den schlimmsten im Herbst, wo sie sinnigerweise den anzufliegenden Christbaum exakt über dem Engländerplatz