Dietmar Schmeiser
Bunsenstraße
Nr. 3
Kindheit in den Ruinen
einer Großstadt
Meinen Enkeln
Milena, Nils, Linn,
Konstantin, Valentin und Anton
Dietmar Schmeiser, 1937, besuchte die Gutenbergschule und das Goethegymnasium in Karlsruhe. Er studierte an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe mit Hauptfach Bildende Kunst und an der Universität Mainz Psychologie, wo er zum Dr. rer. nat. in den Fächern Psychologie, biologische Anthropologie und Psychiatrie promovierte. Ausbildung zum Psychoanalytiker in Heidelberg.
Lindemanns Bibliothek, Band 16,
herausgegeben von Thomas Lindemann.
Titelfoto (Auschnitt): Archiv Schmeiser
Fotos:
S. 93, 94, 95: Erich Bauer, Karlsruhe
S. 45, 92, 98, 103, 203, 204, 219, 221, 222, 223: Archiv Schmeiser
S. 97: Vermessungs- und Liegenschaftsamt Karlsruhe,
aus: Lacker „Zielort Karlsruhe“.
Restliche Fotos: Stadtarchiv Karlsruhe
© 1. Auflage 2005 · Info Verlag GmbH
2. komplett überarbeitete und erweiterte Ausgabe 2017
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck ohne Genehmigung
des Verlages nicht gestattet.
Karlsruhe · Bretten
ISBN 978-3-88190-844-3
www.infoverlag.de
Vorwort zur 2. Auflage
Diese Neuauflage der „Bunsenstraße Nr. 3“ habe ich erheblich erweitert aber auch durch die letzte Geschichte abgerundet. War es mir in der ersten Auflage wichtig, den kindlichen Lebensmut in einer grausamen Zeit darzustellen, kommt jetzt ein weiterer Aspekt hinzu.
Wie schnell wird ein Jahrhundert vergangen sein, und kein Mensch wird aus eigenem Erleben über die Furie des Krieges, die über das Land tobte, berichten können. Wenige Menschen werden nachfühlen können, warum wir ein Grundgesetz beschlossen hatten, das nur die Verteidigung zulässt. Schleichend und weitgehend unbemerkt wird in vielfältiger Weise und in zunehmendem Maße dieses edle Gesetz inzwischen hintergangen. Wir müssen schamhaft gestehen, wir sind nicht zu einer Schweiz geworden.
Vielleicht kann dieses Buch, neben all seiner Leichtigkeit auch spüren lassen, wie unser jeder Tun auch das gemeinsame Geschick mitbestimmt. Die Untätigkeit wäre wieder eine Flucht in die Gleichgültigkeit und deren Folge die betäubende, wortlose Pantomime der Ohnmacht, mit ihrer Ausrede vom Befehlsnotstand, eben das hinlänglich bekannte Schicksal des versagenden Individiums.
Dietmar Schmeiser
Grußwort
Etwa im gleichen Alter wie der Autor habe ich in der gleichen Straße, in der Bunsenstraße im Karlsruher Westen, den zweiten Weltkrieg miterlebt. Das Manuskript habe ich in einem Stück gelesen, immer wieder zustimmend genickt und vor mich hin gemurmelt – ja, so war es, wahr und ungeschminkt.
Die angsterfüllten Bombennächte im Luftschutzkeller wie auch die unterschiedlichen Reaktionen in der Gemeinschaft sind treffend geschildert genauso wie die drei schwersten Fliegerangriffe und die Stunden danach inmitten brennender Häuser und verzweifelter Menschen, die Angehörige, Hab und Gut verloren haben.
Geschildert wird aber auch eine gewisse Unbekümmertheit der Kinder, die nichts anderes gekannt haben und die aus dieser Zeit, die beileibe nicht gut war und die nicht enden wollte, einfach das Beste machten.
Der Autor, mein alter Weg-, mehr aber mein Straßengefährte, Dietmar Schmeiser, hat ein Erzählertalent, das diese Erlebnisse bildhaft wieder aufscheinen lässt, ohne dass er sich heroischer Worte bedienen muss. Die Umgebung, die Geschäfte, die Menschen in dieser Straße, deren Häuser den jüngeren Jugendstil präsentieren, fließen en passant in die Erzählung ein. Auch unser Hausflüsschen, die nahegelegene Alb, den Westbahnhof, die Kirche, den Kaplan sieht man dann wieder im rechten oder besser, im damaligen Licht. Die kirchlichen Feste, aber auch die zum Teil recht makabren Jungenstreiche mit Munition und Knallereien auf den Straßenbahnschienen offenbarten den Willen zu leben in einer trostlosen Umgebung. Unvorstellbar für spätere Jahrgänge, dass man in dieser Tristesse, bei nur noch wenigen Menschen und ohne Autos, einfach so auf der Straße spielen konnte, zumindest zeitweise.
Die Evakuierung, die „Kinderlandverschickung“ in großer Armut und Hunger sowie das Aufpäppeln in einer ganz anderen Welt, in der nahezu heilen, aber auch anstrengenden Welt auf dem Bauernhof, haben viele von uns so oder ähnlich erlebt. Der Auszug abgehärmter deutscher Jungsoldaten und der Einzug von Besatzungsstreitkräften, erst von Franzosen, dann von Amerikanern, wird als Mischung aus Angst und Erleichterung geschildert, so wie es war. Sie kamen aus anderen Welten, denn wir kannten kaum Franzosen und schon gar keine farbigen Amerikaner. Schließlich deutet sich eine neue Zeit an, die Zeit mit einer neuen Währung und – mit einer zarten Liebesgeschichte.
Menschen aus jener Zeit, aber auch Menschen, die den damaligen Alltag hautnah, ehrlich und meist undramatisch nachempfinden wollen, werden an dieses Buch noch lange zurückdenken, so wie ich das tue.
Prof. Dr. Gerhard Seiler
Oberbürgermeister der Stadt Karlsruhe a. D.
Heimweh
Fast wäre ich kein Karlsruher geworden, sondern ein New Yorker – und das kam so:
Mein Großvater Albert hat keine Karlsruherin geheiratet. In Sickingen im Kraichgau fand er meine Großmutter Maria, deren Vater dort eine kleine Brauerei betrieb und Gastwirt des Grünen Hofes war. Nichts Außergewöhnliches, wäre da nicht noch der merkwürdige Trauschein meiner Urgroßeltern gewesen. Davon soll diese Geschichte handeln.
Sie beginnt ganz alltäglich. Ein Mädchen namens Pauline verliebte sich in einen Karl Adolph. Alles hätte bei dem jungen Glück seinen Weg gehen können, wäre Pauline nicht das Kind einer vermögenden Familie gewesen. Karl Adolph aber hatte nicht viel dagegenzusetzen. Paulines Vater Valentin und Mutter Helena hatten sich da schon etwas Besseres für ihre Tochter gewünscht. Daraus machten sie auch keinen Hehl. Pauline sollte sich einen anderen suchen. Karl Adolph käme jedenfalls nicht in Frage. Da halfen kein Betteln, keine Tränen und schon gar kein Handanhalten. Vater blieb stur und Mutter unterstützte ihn. Karl Adolph möge ja ein rechter Mann sein, für eine Heirat käme er aber nicht in Frage. Und dabei blieb es.
Pauline versank in tiefe Trauer. Karl Adolph war gekränkt, so gekränkt, dass er beschloss, in der Neuen Welt sein Glück zu versuchen, wo es in Sickingen doch keines für ihn gab.
Wir wissen nicht, wie die Verliebten voneinander Abschied nahmen, können es uns aber leicht ausmalen. Leider hat meine Großmutter mir davon nichts erzählt. Das war die Sache ihrer Eltern. Über Gefühle wurde selten gesprochen und schon gar nicht über die der Eltern. Wie gesagt, wir sind auf unsere Phantasie angewiesen. Sicher liegen wir nicht falsch, wenn wir uns die Sache sehr traurig vorstellen, wie in aller Herrgottsfrühe Karl Adolph sich auf den Weg nach Karlsruhe machte, wahrscheinlich zu Fuß. Damals gab es in Sickingen noch keine Eisenbahn, geschweige denn einen S-Bahn-Anschluss wie heute, und für eine Kutsche dürfte das Geld nicht gereicht haben. Ein Rheinschiff brachte ihn wahrscheinlich nach Rotterdam.
Wir stellen uns eine weinende, von Vater und Mutter in ihre Kammer gesperrte Pauline vor, die mit ihren zarten siebzehn Jahren dem Geliebten kein letztes Ade sagen durfte. Reichtum kann schmerzen.
Karl Adolph reiste nach New York. Pauline weinte. Sie weinte viele Tage und Wochen. Hatte sie sich doch heimlich mit Karl Adolph verlobt. Nun war