Als hätte sie einer für ihn dorthin bestellt, stehen zwei Männer mit einem Besen zwischen den Beinen auf dem Bürgersteig, im Gespräch miteinander und unverhohlener Neugierde in den Augen, als Kolja sie mit einem Nicken grüßt. Stehen vor ihren Gärten und werden all das Zeug da brav essen, Erbsen und Bohnen, Kartoffeln und Möhren, mit Fleischwürsten dazu und gebratener Leber, und hinter den Gemüsebeeten leuchten in satten Farben weiße Margeriten, roter Mohn, gelbe Schafgarben. Stockrosen in tiefem Altrosa ragen kopfhoch darüber, lichterfüllte, leuchtende Flecken, wie Kolja sie von unzähligen Sommern her kennt.
Was fehlt, schwingt wie von selbst hinzu, und Licht und Töne und Stimmen schlüpfen durch einen Spalt, als hätte sich plötzlich eine Tür geöffnet, und ein Gemisch an Bildern aus seinem Dorf strömt Kolja entgegen, umschließt die zwei Straßenkehrer, und schon ist alles eins, der Geruch frischen Heus und das Geläut der Glocken, das Werkeln und Klappern aus düsteren, niedrigen Scheunen und ein Traktor mit einem polternden Anhänger und hinter dem Lenkrad einer dieser alten Männer, wie sie in alle Ewigkeit zu Feld und Wiese fahren werden, dürr-ledrige Greise, die speckige Mütze tief in die Stirn gezogen.
Es bleibt bei den zwei Alten vor ihren fleißig genutzten Gärten. Kolja glaubt, im Weitergehen ihre misstrauischen Blicke auf seinem Rücken zu spüren.
Nach ein paar Schritten biegt er in eine Straße, in ein Viertel ein, das junge Familien bewohnen. Plastikspielzeug und Kinderräder, eine Unmenge kleiner Schuhe und Stiefel vor den Haustüren, bunte Papptiere kleben an den Fensterscheiben. Junge Väter machen sich am Haus zu schaffen oder kicken auf der Straße mit ihren Söhnen, während ihre Frauen mit einer Gießkanne prüfend zwischen Blumentöpfen hin- und hergehen.
Die Gärten sind schmal und klein, mit Bambussträuchern, Olivenbäumchen und breitblättrigen Kiwis aufgepeppt, die sich an verschnörkelten Eisengittern emporwinden.
Kolja durchquert das Neubauviertel, als hätte er es eilig. Knappe fünfzehn Jahre hat er in einem solchen Reihenhaus verbracht, eben die Jahre, in denen seine Söhne Kinder waren. Wie an jede andere Verbindung mit Menschen erinnert sich Kolja der vergangenen Lebensphasen vor allem gemäß des eigenen Anteils daran, sie zu beenden. Die eigene Kindheit hatte Kolja mitsamt dem Dorf in der Gewissheit hinter sich gelassen, jenseits dessen Grenzen könne ihn nur Besseres erwarten. Zwanzig Jahre später verabschiedeten sich seine Kinder in der gleichen Haltung von ihren Eltern, kaum älter als Kolja damals.
Früh war Kolja von zuhause fortgegangen, da waren ihm die vertrauten Gesichter und Plätze des Dorfs schon seit langem reiz- und geheimnislos geworden. Selten kehrte er zurück um zu sehen, wie die Heimat im Laufe der Jahre jünger wurde und die alten Plätze verschwanden, gleich glatt gezogenen Falten.
Das Land war einst gesprengelt, der Fluss zerfranst gewesen, die Leute hatten nach ihren Häusern gerochen. In den letzten Jahren, ohne den Beistand der Mutter, wurde der Vater dem Haus ein achtloser Hüter, bis Kolja es nach dessen Tod rasch verkaufte.
Für die letzten sechs Jahre, die Kolja in Frankfurt verbrachte, wird ihm Karlsruhe keine Kulisse liefern können. Von seiner Wohnung im zwölften Stock fiel sein Blick auf die endlose Bewegung der Züge, wie sie langsam in den Bahnhof glitten und ihn wieder verließen. Tausende von Menschen drängten sich jeden Tag in den Bahnhof hinein. Sechs Jahre lang gehörte Kolja zu dieser Menge und fand in müder, alltäglicher Routine früh morgens den Weg zu seinem Gleis.
Unzählige Menschen, die am Morgen in die Stadt hineinströmen und sie am Abend wieder verlassen, solche Szenen wird Kolja in Karlsruhe nicht erleben. Nur eine gute Stunde Zugfahrt liegt zwischen den Bahnhöfen der beiden Städte. Eine kurze Zeitspanne, die Kolja zum Glauben verleitete, er brauchte den Folgen seines Umzugs von der einen zur anderen Stadt kaum Bedeutung zu schenken. Die Tage in Karlsruhe würden sich kaum von jenen in Frankfurt unterscheiden. Nach der Arbeit sollten da und dort ein paar leere Stunden am Abend bleiben, an den freien Wochenenden fühlte sich Kolja schon lange nicht mehr an einen Ort gebunden.
Nun wird es ihn erheblich mehr Mühe als erwartet kosten, seine Lebensweise hier fortzusetzen, das Empfinden seiner selbst, gegen das ermüdend Provinzielle, das Kolja bereits nach ein paar Tagen glaubt abwehren zu müssen.
Ein solch aufgeregtes Treiben wie hier im Vorfeld des Papstbesuches wäre unvorstellbar in Frankfurt, und ebenso undenkbar ein solches Gespräch wie gestern Abend auf der Geburtstagsfeier. Selbst diesen abgeklärten Juristen scheint der neue Papst tatsächlich in Unruhe zu versetzen. In Gedanken streift Kolja über den Kreis seiner Bekannten in Frankfurt. Keiner von ihnen stellte sich jemals ernsthaft die Frage nach einer möglichen Erlösung der Nazi-Opfer oder gar nach der Schuldigkeit Gottes, den Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Ob sie aus dieser Enge erwächst, die übertriebene Aufmerksamkeit für dieses Papstspektakel? Die meisten der Gäste gestern Abend haben ihr Leben in oder im Umkreis der Stadt verbracht und halten es der Rede wert, wenn sie ein paar Jahre davon in Mannheim oder Stuttgart zubringen mussten. Die wenigen, die Karlsruhe während des Studiums verlassen hatten, schienen nach vier, fünf Jahren erleichtert zurückgekehrt zu sein.
Kolja weiß nur zu gut um das, was sie ihm voraus haben. Mittlerweile glaubt er es selbst, dass die Vertrautheit, die das Kind zu der Landschaft seiner ersten Jahre entfaltet hat, kein zweites Mal glücken kann, so viel Bereitschaft der Hinzugezogene auch zeigt.
Was er mit den Leuten in seinem Heimatdorf teilt, könnte Kolja keinem Fremden erklären. Obwohl er weniger als die ersten zwanzig Jahre in diesem Dorf verbracht hat, ist es in ihn eingesunken, wie die Leute dort reden und gehen, wie sie einander anschauen – und das einmal gefällte Urteil zeitlebens wiederholen, da reicht ein kurzer, wissender Blick. Ein Blick, genauso entschlossen und stumm wie ihre Haltung am Sonntagmorgen im hinteren, dunklen Teil der Kirche.
Wie sie vor vierzig Jahren dort standen, als Kolja ein Kind gewesen war. Eigenarten sind seinem Dorf unwiederbringlich verloren gegangen, nicht anders als überall.
Wie ein magerer, missratener Finger streckte sich das Bahnhofsgebäude aus dem Dorf heraus. In der Spitze des Fingers, in der Bahnhofswirtschaft, saßen ein paar Alte hinter ihren Karten, ihren Gläsern, behütet vom Wirt. Mittels knapper, mürrischer Zurufe hielt er die lahme Herde unter dem Schein der tief herabgezogenen Lampe zusammen.
Grundlos tat sich im Dorf so leicht keiner mit einem anderen zusammen. Die Alten wachten an seinem äußersten Winkel, und damit kein Fremder, kein Anreisender misstrauisch wurde und auf den Gedanken verfiel, das Dorf sei schutzbedürftig, taten die Männer, als ob sie spielten und kamen Abend für Abend auf dieser Fingerspitze zusammen.
So legte sich Kolja als Kind den Zweck dieser beharrlichen Runde zurecht.
Bis zu seinem Umzug nach Karlsruhe genoss es Kolja, während der Wartezeit zwischen zwei Zügen in der Lounge über den Gleisen zu sitzen, in diesen tiefen, roten Sesseln, fremde Menschen zu betrachten und innerlich fortzubleiben, obwohl es keine zehn Minuten gebraucht hätte, um sich in seiner Wohnung ein wenig auszuruhen.
Botanischer Garten
Die junge Frau des Juristen steigt ihm aus eben jener Straßenbahn entgegen, die Kolja hätte nach Hause bringen sollen. Er bleibt stehen, und wäre genauso gut mit einem netten, flüchtigen Gruß in die Bahn hinein an ihr vorbei gewesen.
Selbstverständlich erkennt sie ihn sofort wieder.
„Hallo! Haben Sie sich unsere schöne Stadt angeschaut?“
Kolja nickt.
„Von der Pyramide zum Schloss, über den blauen Weg bis zur Majolika, man ist ja schnell fertig damit.“
„Der blaue Weg?“
„Ja, die 1.645 blauen Kacheln, die vom Schloss aus über die große Wiese bis zur Majolika führen, da sitzt man ganz nett in diesem Hof.“
„Das habe ich wohl verpasst.“
„Na, dann schauen Sie mal bei Ihrer nächsten Tour vorbei, Sie