Der Papst kommt. Andrea Hensgen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrea Hensgen
Издательство: Bookwire
Серия: Lindemanns
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783881907408
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      Meinem Sohn, dem Stadtbetrachter

      Andrea-Hensgen_sw.jpgAndrea Hensgen verbrachte ihre Kindheit in einem Dorf an der französisch/luxemburgischen Grenze, studierte in Saarbrücken Geisteswissenschaften und lebte anschließend 25 Jahre in Karlsruhe. Hier wuchsen ihre drei Kinder auf, hier begann sie ihre schriftstellerische Arbeit. Bereits ihr erstes Werk, ein philosophisches Jugendbuch, erfuhr viel Beachtung und Übersetzungen in mehrere Sprachen. Sowohl für ihre nachfolgenden Romane und Erzählungen als auch für ihre zahlreichen Kinderbücher erhielt Andrea Hensgen Preise und Auszeichnungen, zuletzt im Jahre 2011 das Vilnius-Stipendium des Hessischen Literaturrats und das Kinderbuchstipendium des Landes Luxemburg. Philosophische Fragen stehen im Mittelpunkt des gesamten Werkes. In Andrea Hensgens Betrachtung der Welt fließt das Wissen um die geistigen Traditionen Europas und in ihren Blick auf die Menschen jene Entwürfe gelungenen Lebens, wie sie unsere Kultur hervorgebracht hat. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in einem Dorf nahe Freiburg.

      Andrea Hensgen

      Der Papst

      kommt

      Roman

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      Der Eingang in die Stadt

      Kolja in Karlsruhe, das passt nicht.

      Schon während der ersten Tage fühlt es sich deutlich ­schwieriger an als Koljas Erlebnis anderer Städte. Wobei er ohnehin der weit verbreiteten Ansicht kaum zustimmen würde, die Fremde eröffne mehr Freiheiten als das Gewohnte.

      Seine mehrmonatigen Aufenthalte an fremden Orten empfand Kolja bislang jedes Mal vor allem als Begrenzung. Im vertrauten Raum geht man ungehindert seinen Dingen nach. Dagegen ­kos­tet es Zeit und Kraft, eine unbekannte Umgebung so weit zu ­erkunden, bis man weiß, welche Menschen, welche Orte ein weiteres Interesse lohnen.

      Einer neuen Stadt steht der Fremde alleine gegenüber. Aus Not greift er nach Gelegenheiten, die ihm zuhause keinen Blick wert wären.

      Statt den Gästen der Geburtstagsfeier wendet sich Kolja dem Fenster zu. Er sieht hinab auf den breiten, dunklen Streifen mitten in der Stadt. In der Nacht umschließt das matte Licht der Laternen entlang der Außenmauern das Innere des Zoos. Gehege, Wege und Tierhäuser verschmelzen zu einem undurchdringlichen Schwarz.

      Andernorts streift man nach der Ankunft in der fremden Stadt und den ersten Schritten aus dem Bahnhof durch Kneipen- oder Vergnügungsviertel. In Karlsruhe spaziert man vorbei an ­Giraffen, Elefanten und Löwen. Der Name dieser Mischung aus Tierge­hegen und Blumenanlagen verdankt sich einem überschaubaren Park rund um die Tierareale mitsamt einer Seebühne.

      Vor ein paar Tagen führte eine seiner ersten Erkundungen der Stadt auf die Promenade an diesem See entlang. Vom Klang der Musik ließ er sich zur Bühne leiten. Die Musikvereine der um­liegenden Orte vertrieben dort den Spaziergängern und den herbeigefahrenen Nachbarn und Bekannten die Zeit am Sonntagmorgen. Alle verband eine schläfrige Gleichgültigkeit, die Spieler mit ihren Instrumenten auf der Bühne und jene, die unter ihnen geduldig dösend in der Sonne saßen.

      Ruhig glitten Schwäne und Enten über den See, unbeeindruckt von den vielen kleinen Booten, in denen die Zoobesucher an ihnen vorbeizogen. Junge Familien und Gruppen älterer Leute überließen sich dem ebenso anstrengungs- wie ereignislosen ­Vergnügen. Selbst die Kinder schienen von dieser Sonntagsstimmung erfasst und ließen stumm Halme und Zweige am Rand der Boote durchs Wasser treiben.

      Oft passiert es Kolja an einem Ort wie diesem, dass ihn das Gefühl befällt, einem Geschehen beizuwohnen, dem bald die Menschen fehlen werden. In zehn oder fünfzehn Jahren wird sich hier hoffentlich niemand mehr am Sonntagmorgen einfinden, um geduldig dem Akkordeonspiel seines Nachbarn zu applaudieren. Auch Panther, Nilpferde und Giraffen werden dann endgültig von diesem Ort verschwunden sein.

      Kolja wendet seinen Blick zurück zu den Geburtstagsgästen.

      Wahrscheinlich wollte der Gastgeber die bekannte Runde an Gästen und Gesprächen um ein fremdes, unvorhersehbares Element bereichern. So erklärt sich Kolja seine Einladung. Eine Melange aus Langeweile und Neugierde, der unbedacht der Impuls entschlüpfte, die eingespielte Gesellschaft einmal aufzumischen. Außer dem Gastgeber kennt Kolja hier niemanden und spürt zu seinem eigenen Erstaunen nicht den geringsten Antrieb, an ­diesem Zustand etwas zu ändern.

      Von seinem Fensterplatz aus kann er dem Gespräch um den Redner dicht vor ihm folgen, ohne sich der Runde sichtbar anschließen zu müssen.

      Schon jetzt beschäftigt der Papstbesuch die ganze Stadt. ­Dabei sind es noch knapp vier Monate, bis der Papst auf dem Flughafen in Baden-Baden einfliegen und in Karlsruhes ­Fußballstadion eine Predigt halten wird. Selbst Kolja als Fremdem drängt sich das Spektakel auf, durch Gespräche in der Kantine, durch den prominenten Platz in den Lokalnachrichten und nicht zuletzt durch die lebensgroßen Plakate des Papstes auf allen ­Werbeflächen in der Mitte der Stadt. Leutselig lächelnd winkt er den Leuten zu.

      Mittlerweile weiß Kolja nicht mehr zu entscheiden, ob sein Misstrauen gegenüber diesem Lächeln aus seinem Wissen um die Positionen des Papstes rührt oder Tag für Tag gefüttert wird durch den Anblick dieser lebensfrohen Miene. Ununterscheidbar verschmelzen darin ein kumpelhaftes Anbiedern und eine selbstgewisse Entschlossenheit.

      Wie der Mann da zwei, drei Schritte vor Kolja die Rede schwingt inmitten der Runde, ist er Auftritte vor Publikum gewohnt. Ein Jurist, den Bemerkungen der Zuhörer nach, klein, ein spitzes Gesicht und schlechte Zähne, Kolja schätzt ihn auf Ende vierzig. Wie viele Männer dieses legasthenischen Typs hat er sich den ­schmalen, fast schmächtigen Körper seiner Jugend bewahrt, mit Ausnahme der mächtigen Ausdehnung seines Bauchs. Leicht nach vorne gebeugt steht er da, als zöge ihn dessen Gewicht zu Boden.

      Er kennt den Kreis, weiß zweifelsohne die vorherrschende Meinung hier abzuschätzen. Offenbar liegt ihm nichts daran, die Schärfe seiner Rede zu mildern, um Provokationen zu vermeiden. Ganz im Gegenteil.

      „Immerhin, er wagt Neues, setzt andere Zeichen. Soweit das möglich ist innerhalb einer jahrhundertealten Hierarchie. Und die Leute jubeln ihm zu, als hätten sie seit langem auf nichts mehr als einen solchen Aufbruch gewartet!“

      Sein Blick springt von einem zum anderen in der Runde, als rührte ihn der Papst zu einem aufrichtigen Staunen und als läge es nun an seinen Zuhörern, ihm eine Erklärung zu liefern.

      „Was erwarten sich die Leute bloß von diesem Mann? Ist denn diese Kirche überhaupt noch bereit und fähig zu einem wahren Christentum?“

      Abrupt bremst sein fragender Blick ab auf dem Gesicht einer jungen Frau und heftet sich daran fest. Sofort flammt eine mädchenhafte Röte darin auf. Offenbar ebenfalls eine Fremde in ­dieser Runde, gegenüber niemandem hier gab sie sich bislang so ­leichthin vertraut wie die übrigen Gäste miteinander. Eine Südländerin, wahrscheinlich aus Italien, Anfang dreißig, grundgläubig und völlig hilflos, in einer solchen Gesellschaft über ihren Gott zu ­reden.

      Christoph springt ihr bei. Kolja hat dessen Namen in der Begrüßungsrunde aufgeschnappt. Christophs Eintritt, etwas verspätet, war unüberseh-, unüberhörbar gewesen. Umarmen und Küsschen, übertriebene, fast zärtliche Komplimente, keine der Frauen enttäuschte Christoph in seinem scheuen Vergnügen, mit Mitte fünfzig nichts von seinem jugendlichen Charme eingebüßt zu ­haben. Kolja gab den Frauen in Gedanken recht. Da kam kein eitler Narziss an, sondern tatsächlich einer von der Sorte Menschen, denen es vergönnt ist, sich mit unbekümmerter Freude an sich selbst durchs Leben zu begleiten. Christoph scheint ohne Sorge, dass das Getue rund um sein Kommen bei dem Großteil der Gäs­te etwas anderem als ehrlichem Wohlwollen entspringen könnte.

      Auffallend dicht stellt er sich der schüchternen Südländerin zur Seite.

      „Fritz, lass’ es doch, einen Strohmann aufzubauen, bloß um ihn gleich wieder zufrieden abzubrennen. Das gab es immer, und wird es immer geben. Die Leute brauchen einen, zu dem sie