Doch das sollte nicht von langer Dauer sein.
Viele Jahre danach sprach Lewis Jones bei der BBC über seinen Sohn. Die Erzählung durchzogen verwirrende Aussagen, denn Lewis ahnte kaum etwas davon, was tatsächlich in Brian vorgegangen war. Die beiden, die sich in vielerlei Hinsicht ähnelten, trennte die Kluft zwischen den Generationen, die in ihrem speziellen Fall einem jähen Abgrund gleichkam. Der öffnete sich 1956, und der Grund lag beim Jazz, oder – um genauer zu sein, bei Jazz und Sex.
Der Rundfunkmoderator Alistair Cooke erinnert sich an den Tag, an dem seine Mutter ihn beim Hören einer Platte von Louis Armstrong ertappte: Sie brach in Tränen aus, beschämt darüber, die Klänge zu hören, die ihre Generation als „verkommene und erniedrigende Negermusik“ betrachtete. Für Jungen wie Brian und seine Freunde Graham und John Keen stellte die Musik eine „Offenbarung“ dar. Doch sogar die Keen-Brüder, die verhältnismäßig aufgeklärte Eltern hatten, „mussten darüber schweigen und es damals dabei belassen. Es wurde als ein schlechter Einfluss gesehen“.
Doch Brian schwieg nicht. Jazz und andere Genres schwarzer Musik, die in dem Jahr im Bewusstsein der Teenager in Großbritannien nahezu explodierten, sollten ab dieser Zeit der Fokus seines Lebens sein. Letztendlich wirkte sich auch die Art, wie die Eltern mit dem neuen, gefürchteten Phänomen umgingen, maßgeblich auf die Ausprägung seines Lebenswegs aus.
Viele britische Jugendliche entdeckten 1956 Jazz oder Rock ’n’ Roll. Es war das Jahr Null, symbolisiert von der Veröffentlichung des James-Dean-Films … denn sie wissen nicht, was sie tun, der die Ikonografie der jugendlichen Rebellion definierte. Brians zukünftigen Bandkollegen nach spürte man die geradezu seismischen Erschütterungen auch in Dartford, Kent. „Es war der Anfang einer Teenager-Kultur, und von dem Zeitpunkt an teilte sich unsere Klasse in musikalische Fraktionen auf“, erzählt Dick Taylor, ein zukünftiger Stone. Dicks Klassenkamerad, der Musterschüler Mick Jagger, war schon längst ein „Yankophiler“, allgemein für seine Besessenheit vom Baseball bekannt. Er ließ sich von der neuen Musik vereinnahmen wie auch der Freund Bob Beckwith. Jedoch zeigten sich Dicks und Micks Eltern hinsichtlich der Obsession nachsichtig und waren erfreut, dass ihre Söhne plötzlich mit einer Gitarre im Wohnzimmer auftauchten und Krach machten. Das traf auch auf einen gewissen Keith Richards zu, dem Dick drei Jahre später auf der Sidcup-Kunsthochschule begegnete. Doch in der Beziehung zwischen Brian und seinen Eltern öffnete der Beginn „degenerierter“ Musik einen Spalt, der sich drei Jahre darauf zu einer unüberbrückbaren Kluft vergrößert hatte. Viele Zeitzeugen haben Berichte über Brians unterkühlte und lieblose Erziehung als Kind gehört. Für die Jahre, in denen er die Pubertät erreichte, liegen direkte Quellen vor. Falls seine Eltern eine gewisse Zuneigung oder gar Liebe zeigten, dann lag die Bedingung dafür im absoluten Befolgen ihrer Regeln. „Das mit psychologischer Genauigkeit festzumachen ist schwierig“, kommentiert John Keen, „doch meine Mutter kannte seine recht gut – und ich bin der festen Überzeugung, dass ihn seine Eltern nicht mit der Liebe behandelten, die den meisten anderen Kindern zukommt.“
Die Cheltenham Grammar verfolgte die Entwicklung der Schüler Jahr für Jahr. Ihre Beurteilung über die Entfremdung des brillanten, selbstsicheren Kindes, das im Kirchenchor sang, ein Kaninchen hielt, ein strebsamer Pfadfinder und Mitglied des Gloucester Youth Club (Railway Section) war, wirkt erschütternd. Schon im Sommer 1955 bemerkte Brians Klassenlehrer Jim Dodge eine Verhaltensänderung seines Schülers. Ihm fiel auf, dass Brian „unter einem dominierenden Vater leidet und sich zur Kompensation angeberisch verhält“. Mr. Dodge war laut den Erinnerungen ehemaliger Schüler ein scharfsinniger und weltoffener Mann. Er hatte mit seiner Aussage ein Schlüsselelement der Psyche des jungen Brian deutlich angesprochen. „In der Familie herrschten ständig Spannungen“, erläutert Roger Jessop. „Ich hätte es gehasst, wenn Lewis mein Vater gewesen wäre. Was auch immer [Brian] machte – es war nicht richtig für ihn.“ Verglichen mit den meist neutral ausfallenden Einschätzungen einiger Berichte ist Dodges Dokumentation von Brians Psyche von großem Wert. Jährlich folgten neue Einschätzungen, dass Brian ein schlauer Schüler sei, aber eine „einfühlsame und vorsichtige Behandlung“ benötigt. Doch seine Lehrer lernten niemals, wie man mit diesem Jungen hätte umgehen sollen.
Neben der Musik und der Hormonflut eines Teenagers gab es noch einen zusätzlich erschwerenden Faktor: Brians Asthma. Die Krankheit sollte der letzte Nagel zu dem Sarg sein, in dem seine Zukunft als ausgezeichneter Absolvent der Grammar School zu Grabe getragen wurde. In dem ersten und eventuell zweiten Jahr konnte er sich noch beim Sport behaupten. Dann stieg er einfach aus der Sportlerclique aus, wie Roger Jessop zu berichten weiß, der morgens meist mit Brian zur Schule fuhr. „Oft war er nicht fit genug für reguläre Spiele. Ich glaube, er hasste sich dafür und entwickelte einen Komplex. Er hatte nicht die Kraft, um die ihm von der Natur auferlegten Beschränkungen zu überwinden.“ Sogar Brians Lehrer bemerkten die Gesundheitsprobleme: Im Sommer 1956 gab es 15 krankheitsbedingte Fehltage und darüber hinaus Kommentare, dass er schlecht schlief.
Auf der Cheltenham Grammar School spielten Jungen, die es zu etwas brachten, entweder Kricket oder Rugby – nur sie waren einer Erwähnung in der jährlichen Schulzeitung würdig. Brians gesundheitliche Probleme machten ihn zu einem Außenseiter. Roger Jessop gehört zu den zahlreichen Schülern, die einen engen Kontakt untereinander pflegten und später in angesehenen Berufen ihre Spuren hinterließen. Nach den ersten Jahren der gemeinsamen morgendlichen Fahrten zur Schule schlugen er und Brian unterschiedliche Wege ein. „In den ersten Jahren war er beliebt. Das hing mit seinen schulischen Leistungen zusammen und dem Vermögen, bei den Hausaufgaben zu helfen. Jedoch verlor er bei den meisten sehr schnell seinen Status. Als er abging, war er meiner Meinung nach nicht sonderlich angesehen.“
Hätten Brians Eltern jemals das Rauschen im Blätterwald der britischen Zeitschriften wahrgenommen, die ab Mitte der Fünfziger gegen den korrumpierenden Einfluss des Rock ’n’ Roll oder des „Beatnik Horror“ wetterten (letzteres schrieb die Sunday Times), wäre ihnen ihr Leben wie eine exemplarische Fallstudie vorgekommen. Ihre mangelnde Flexibilität besiegelte möglicherweise den Niedergang der Familie. Louisa vertraute sich gelegentlich der Chorfreundin Marian Keen an und beklagte sich darüber, dass Brian außer Kontrolle geraten sei. Diese wiederum – nachdem man ihr verraten hatte, dass ihre Söhne von Louis Armstrong geradezu besessen waren – hielt ihr Fähnchen in den Wind und erlaubte ihnen das Jazz-Hören. „Meine Eltern konnten sich anpassen“, berichtet John Keen. „Ich hatte das Gefühl, dass Brians Eltern hingegen starrsinnig reagierten und schnell alles ablehnten, was außerhalb des ihnen Angenehmen lag.“ Als Resultat verwandelte sich Brian Jones innerhalb von zwölf Monaten in ein „wildes Kind“, wie man das mit der Cheltenham-Begrifflichkeit kategorisierte. Wenn seine Schulkameraden von dieser Phase erzählen, gebrauchen sie schnell ähnliche Wörter und Beschreibungen, von denen einige häufig in seinem Leben wiederkehrten, wie zum Beispiel „einen Komplex haben“ oder „rebellisch“. Von dem Zeitpunkt an wird er fast ausschließlich als Musiker dargestellt, den man ständig mit einer Klarinette oder einer Gitarre sah. Ein Interviewpartner benutzte einen Terminus, der erst später auftauchte: „The Devil.“
Als Brian von der Musik wie von einem Blitzschlag getroffen wurde, schien alles zusammenzukommen. Höchstwahrscheinlich war Bill Haley, dessen „Rock Around The Clock“ sich im November 1955 bis an die Spitze der UK-Charts vorarbeitete, der erste Vorbote eines neuen Lebensstils. Unverzüglich versuchte sich Brian der Wurzeln der von ihm geliebten Musik bewusst zu werden. Er beschäftigte sich mit den eher rauen Country-Platten, die den Rock ’n’ Roll beeinflussten, darunter Johnny Cash und – wie wir sehen werden – Tennessee Ernie Ford. Gemeinsam