„Es wird nicht mehr Eingeweihte geben als es ohnehin schon gibt. Und mein Freund wird mitmachen, sobald er den Schmerz über den Verlust seines Jungen überstanden hat. Fidati di me!“
Antonio Paganini war ein echter Genueser und liebte Geld, das wusste Giorgio mit Sicherheit. Jetzt brauchte er es besonders, da wieder eine Beerdigung bevorstand. Er hielt dem Fremden die Hand hin und sagte:
„Morgen Nacht zur verabredeten Stelle am Hafen! Promesso!“
„Ich verlasse mich darauf!“ Der Fremde drehte sich ohne einen weiteren Gruß um und ging auf den schiefen Pflastersteinen der Via Lorenzo hinunter Richtung Hafen.
Nachdenklich sah Antonio aus dem Fenster. Das gegenüberliegende schlammfarbene Gebäude lag so nah, dass er es mit der Hand hätte berühren können, wäre das Fenster offen gewesen. Aber es war Februar, die Scheibe beschlagen und seine Laune auf dem Tiefpunkt. „Es heißt, Großherzog Leopold habe in der Toskana Todesstrafe und Folter abgeschafft und er habe Privateigentum dem Volk zugänglich gemacht, den Bauern vom Großteil seiner Fron befreit, damit er langsamer krepiert …“ Er redete nun lauter, um das Gejammer seiner Frau zu übertönen. „Ja, ja, ich bin für Veränderung. Das ist doch klar, aber sie soll friedlich vor sich gehen, in aller Ruhe. Ich will keine Schwierigkeiten, keine Gefahr für meine Familie heraufbeschwören!“
„Antonio, wovon redest du? Was interessiert dich die Politik? Was interessiert das Schicksal Genuas? Das Kind ist tot …“
„Genua ist eine Republik und war immer schon besser dran als die anderen Staaten. Die reichen Grimaldis, Dorias, Balbis haben dazu beigetragen und uns dabei ausgenommen. So ist das eben! Wollen wir uns beklagen? So schlecht wie in Süditalien geht es uns lange nicht.“ Antonios Worte klangen hohl. Es fehlte der Herzschlag, denn er hasste es, in der armseligen Gasse zu hausen, in einem feuchtklammen Wohnkasten zu nisten, Missgeburt italienischer Architektur, durch die übelste Gerüche strömten. Für ihn würden Genuas wunderschöne Winkel, die herrlichen Hänge und malerische Viertel auf immer verschlossen bleiben. Dort wohnten die Dorias, Grimaldis und ihresgleichen. Er gehörte nicht dazu und konnte sich wenig Hoffnung machen, jemals dazu zu gehören.
„Antonio! Marito! Was gehen sie uns an? Das Kind ist tot …“, wiederholte Teresa tonlos und endlich kehrte Antonio seiner Frau das Gesicht zu. Sie war eine gute Frau, gute Katholikin, gute Italienerin, von kleiner Gestalt, die durch das schwere Haupthaar noch gedrängter wirkte. Sie hatte schwarze Augen, eine spitze, sehr lange Nase und das Kinn einer Eule. Vielleicht liebte er sie, vielleicht auch nicht. Jedenfalls sorgte er für sie und die Kinder.
Teresa schluchzte. Allmählich löste sie den traurigen Blick vom reglosen Körper ihres Sohnes und sah zu ihrem Mann. Sie verabscheute seine dummen Reden, wollte er damit doch nur von seinem Schmerz ablenken, denn auch er litt, wenn er es auch nicht zeigte, der strenge Mensch mit den finsteren Augen, die im Widerschein des milchigen Tageslichtes weiß funkelten. Sie starrte an ihm vorbei auf die schmutzige Fensterscheibe. Dort meinte sie, ein Blatt zu erkennen, das langsam in Stufen durch die Luft zur Erde sank. Sonderbar, dachte sie. Da schwebt vom nasskalten Februarhimmel ein Olivenblatt. Es schwebt in diese schmale Gasse, in der kein einziger Baum wächst, fliegt vor das Fenster des schäbigsten Hauses. Nichts blühte in diesem finsteren Viertel, nur Unkraut drängte sich durch die Ritzen der Steinquader und Mauerrisse. Wenn hier ein Lebenslicht erlosch, wunderte sich niemand.
Ihr Mann, Francesco Antonio Paganini, kam auf sie zu. Er hatte einen kantigen Kopf, dichtes struppiges Haar und die schmalen Lippen eines verbitterten Menschen. Und er stank nach Knoblauch. Als Teresa ihn 1777 in einer der schönsten Kirchen Genuas, der Chiesa delle Grazie, geheiratet hatte, war er dreiundzwanzig und seine Lippen hatten die Form eines Kusses. Teresa konnte nicht lesen, aber sie erkannte Zahlen. Dreimal die sieben war ein gutes Zeichen und darum hatte Teresa befunden, dass sich unter der harten Schale ihres finsteren Mannes ein guter Kern verstecken
musste.
„Wieder ein totes Kind!“, murmelte er, während er zum Bett schritt. Er schob das Leintuch über das Gesicht des Vierjährigen und bekreuzigte sich. Teresa schluchzte auf.
„Angela ist kaum begraben und schon müssen wir den Jungen hergeben. Heilige Mutter Gottes, Santa Maria, was habe ich getan?“ Teresas Gesichtsfarbe war nun bräunlich blass und krank, ihre lebhaften schwarzen Augen wirkten stumpf, ihr Atem ging flach.
„Nichts Schlechtes hast du getan, Weib! Nur warst du so dumm, an den Humbug deines Heilands zu glauben. Hat er dir nicht im Traum prophezeit, unser Sohn würde ein großer Geiger werden? Wie du siehst, wird unser Sohn nicht einmal groß.“
„Antonio! …“, wimmerte sie und warf die Arme in die Luft. „Antonio! Nicht schreien … bitte nicht schreien …!“
„In unserer Stadt sterben die Kinder wie Fliegen, während sich die Spinolas und Dorias bester Gesundheit erfreuen. Überall lauert diese verdammte Krankheit, vor der wir unsere Türen nicht verschließen können, weil wir nicht die passenden Pforten haben wie die Reichen. Aber Dreck ist genug da, den Tod anzulocken. Weiß der Teufel, wie diese Krankheit heißt. Tückisch, tückisch, denn wer achtet auf Flecken im Mund und hinter den Ohren. Wir haben alle Flecken. Überall haben wir Flecken. Schau dich an, Weib. Siehst ganz scheckig aus.“
Resigniert ließ die Frau ihre Arme sinken. Obwohl noch jung, wirkte sie erschöpft. In ihrem Haar schimmerten Silberfäden, es hatte seine Spannkraft verloren und das Strahlen ihrer Augen war erloschen. Hilflos sah sie zu ihrem Mann. Dieser drehte sich wieder zum Fenster. Er öffnete die Scheibe und blickte suchend hinunter.
„Der Dottore wollte noch einmal kommen. Ich sehe ihn nicht, und es ist ja auch egal. Was wir brauchen ist ein Priester.“
„Antonio!“, jammerte die Frau von neuem. „Du sprichst vom Teufel und von Flecken und ob der Dottore kommt ist dir egal. Antonio, du bist kein guter Mensch.“
Teresas Blick wanderte an den schimmeligen Wänden hinauf, über die armseligen Möbel zu dem rostigen Bettgestell, auf dem ihr Sohn lag und sich nicht mehr rührte. Zitternd trat sie näher. Nachdem sie den verhüllten Körper eine Weile angestarrt hatte, zog sie vorsichtig das Tuch vom Gesicht. Beim Anblick der reglosen feinen Züge zuckte sie zurück, fiel vor dem Jungen auf die Knie, faltete die Hände und betete mit monotoner, kraftloser Stimme mehrere Rosenkränze. Ihr Gemurmel und ihr Schluchzen gesellten sich zum Klang der eiligen Schritte des Dottore, die in der gepflasterten Gasse wie Pferdegetrappel hallten. Antonio rief ihm vom Fenster aus zu.
„Parieren Sie zum gemächlichen Schritt durch, Dottore! Es ist nicht mehr viel zu reparieren.“
„Mi scusi?“ Sein bleiches Gesicht blickte auf, dann verschwand er im Hauseingang. Antonios Rat hatte er nicht befolgt, denn er sprang regelrecht die Stufen zum oberen Geschoss hinauf.
„Verzeihen Sie die Verspätung, aber meine Kutsche ist in der Gasse stecken geblieben und ich musste durchs Dach hinausklettern wie eine Katze!“, röchelte er, wobei er den Hut abnahm.
„Madre mia, Dottore! Wer brachte Sie auf die einfältige Idee, eine Kutsche durch die Passo del Gatto zu quetschen? In Genua gibt es nur zwei Straßen, die breit genug für Kutschen sind. Hier