6.3. So wie ich es einschätze, verfügt der feindliche Mann in Yue73 zwar über viele Soldaten, wie sollte dies aber auch angesichts der oben geschilderten Möglichkeiten, eine große feindliche Streitmacht zu zersplittern, für einen Sieg von Nutzen sein?
6.4. Darum heißt es: Ein Sieg ist mittels der Herbeiführung von den Feind aufspaltenden Kräftekonstellationen gestützt beispielsweise auf die oben geschilderten Maßnahmen machbar. Der Feind mag zwar über eine Menge Soldaten verfügen, aber man kann ihn in eine Konstellation versetzen, in der er keine Kampfkraft mehr hat. Daher gilt: Man versetzt ihm mit kleinen Truppen einzelne Schläge, um aufgrund seiner Reaktionen das Wissen darüber zu erlangen, welche feindlichen Planungen gekonnt und welche fehlerhaft sind. Man kundschaftet ihn aus, um das Wissen darüber zu erlangen, nach welchen Regelmäßigkeiten er agiert. Man zeigt ihm Truggebilde, um aufgrund seiner Reaktionen das Wissen darüber zu erlangen, wo seine Schwachstellen liegen und ihm daher der Todesstoß versetzt werden kann, und wo seine starken Stellen liegen und daher bei einem Angriff sein Überleben gesichert wäre. Man nimmt ihn links und rechts in einem Testangriff in die Zange, um aufgrund seines Widerstandes das Wissen über seine reichlich und seine ungenügend geschützten Stellen zu erlangen. Erreicht man im Vorgaukeln von Truggebilden, die den Feind in die Irre führen, den Gipfelpunkt, dann bringt man es fertig, selbst keine Spuren zu hinterlassen. Hinterlässt man keine Spuren, dann vermögen selbst Meisterspione nichts auszukundschaften, und selbst ein weiser Feind vermag keine listigen Planungen auszuhecken. Habe ich, gestützt auf die Kenntnis der die Leere und Fülle beim Feind offenlegenden Spuren, Maßnahmen ergriffen und vor den Augen der vielen Soldaten den Sieg errungen, dann sind die vielen Soldaten doch nicht imstande, das Geheimnis meines Erfolges zu wissen. Die Männer wissen zwar alle Bescheid über die Situation74, in der ich gesiegt habe, aber sie wissen nicht, wie ich die siegbringende Situation herbeigeführt habe. Man kann die auf eine bestimmte Situation abgestimmten Maßnahmen, dank denen man den Sieg in einem Waffengang errungen hat, nicht wiederholen, sondern man sollte sie entsprechend den Veränderungen der Situationen endlos variieren.
6.5. Die Formen der Kriegführung gleichen jenen des Wassers. Was das Fließen des Wassers anbelangt, so meidet es die Höhe und stürzt nach unten. Was die Formen der Kriegführung anbelangt, so meidet sie die Fülle und stößt gegen die Leere vor. Das Wasser formt die Geschwindigkeit und die Richtung seines Fließens entsprechend der Beschaffenheit des Bodens. Im Krieg formt der Feldherr die Maßnahmen zur Erringung des Sieges entsprechend den sich verändernden Situationen beim Feind. Daher gibt es für die Kriegführung keine ewig unveränderliche Konstellation, so wie es für das Wasser keine ewig unveränderliche Fließform gibt. Wer entsprechend den Veränderungen beim Feind unterschiedliche Maßnahmen zu ergreifen und so den Sieg zu erringen vermag, den bezeichnet man als Genius. Was die fünf Wandlungszustände75 anbelangt, so gibt es für keinen von ihnen den ewigen Sieg. Was die vier Jahreszeiten anbelangt, so gibt es für keine von ihnen einen ewigen Stillstand. Was die Sonne angeht, so scheint sie manchmal kurz und manchmal lang. Was den Mond angeht, so nimmt er bald ab, bald nimmt er zu. So wie diese Naturerscheinungen in einem ständigen Fluss sind, verändern sich auch die Stellen feindlicher Fülle und feindlicher Leere in einem Krieg unaufhörlich, was einen Genius in den Stand versetzt, immer eine Durchbruchsstelle für einen Sieg zu finden.
7. Kapitel
Das Ringen der Armeen
7.1. Meister Sun sagt: Allgemein gilt gemäß den Regeln betreffend den Armeeeinsatz: Der Feldherr empfängt vom Fürsten einen Befehl, er hebt eine Menge von Soldaten aus, stellt eine einträchtige Armee auf, führt die Armee auf das Kampfgelände, schlägt ein Lager auf und bezieht dem Feind gegenüber kampfbereit Stellung, aber nichts ist vor einem Waffengang schwieriger, als beim Ringen der eigenen und feindlichen Armeen um die für den Waffengang günstigstmöglichen Bedingungen das Kommando zu führen. Die Schwierigkeit beim Ringen der Armeen um die für den Waffengang günstigstmöglichen Bedingungen besteht erstens darin, den klaren Durchblick zu haben, um einen geeigneten Umweg als den geraden Weg ausfindig zu machen und zu behandeln und demgemäß auf dem infolge feindlicher Leere gefahrlosen Umweg schneller ans Ziel zu gelangen als auf dem infolge feindlicher Fülle gefahrvollen geraden Weg, und zweitens darin, über das richtige Augenmaß zu verfügen, um angemessene Einbußen als Vorteile zu behandeln und daher gewisse Beschneidungen des Heeresumfangs in Kauf zu nehmen, um dafür an Marschgeschwindigkeit zu gewinnen.
7.2. Daher windet und wendet der Feldherr seinen Weg zum Waffengang mit dem Feind und lockt ihn durch ihm dargebotene Vorteile in die Irre, so dass dieser bei seinem Vormarsch Zeit verschwendet. So kann man nach den feindlichen Männern aufbrechen und trotzdem vor den feindlichen Männern auf dem Gefechtsfeld eintreffen. Das bedeutet, dass man das Kalkül betreffend den Gebrauch eines gekrümmten Umweges anstelle eines geraden Weges zu meistern weiß. Wer vorneweg das Kalkül betreffend den Gebrauch eines gekrümmten Umweges anstelle eines geraden Weges zu meistern weiß, siegt. Das ist die Vorgehensweise beim Ringen der Armeen um die für den Waffengang günstigstmöglichen Bedingungen. Das Ringen der eigenen Armee mit der feindlichen Armee um die für den Waffengang günstigstmöglichen Bedingungen ist, falls klug ausgeübt, nutzbringend, aber das Ringen der eigenen Armee mit der feindlichen Armee um die für den Waffengang günstigstmöglichen Bedingungen kann, falls unklug ausgeübt, auch gefährlich sein. Bietet man die ganze Armee einschließlich des Trosses auf, um die für den Waffengang günstigstmöglichen Bedingungen zu erringen, dann wird man, da man zu langsam vorankommt, das Ziel nicht erreichen. Lässt man die Habseligkeiten der Armee zurück, um mit leichten Truppen schneller die für den Waffengang günstigstmöglichen