Sie selbst hätte dieses Gefühl der Lebensfreude nicht erklären können, das sie über die sonnendurchflutete Welt zu ihren Füßen emporzuheben schien. War es Liebe, fragte sie sich, oder bloß die zufällige Verbindung von glücklichen Gedanken und Empfindungen? Wie viel davon hatte sie nur dem Zauber des vollkommenen Nachmittags zu verdanken, dem Duft der verblassenden Wälder, dem Gedanken an all das Öde, dem sie entkommen war? Lily hatte keine eindeutigen Erfahrungen, mit deren Hilfe sie die Beschaffenheit ihrer Gefühle hätte prüfen können. Sie hatte sich zwar schon des Öfteren in Schicksale oder Karrieren verliebt, aber nur einmal in einen Mann. Das war schon Jahre her; zur Zeit ihres Debüts war sie von einer romantischen Leidenschaft für einen jungen Herrn namens Herbert Melson ergriffen gewesen, er hatte blaue Augen gehabt und eine leichte Welle im Haar. Mr. Melson, der über keine weiteren verwertbaren Sicherheiten als diese zwei verfügte, hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sie zur Eroberung der ältesten Miss Van Osburgh zu verwenden; seit dieser Zeit war er füllig geworden, schnaufte und hatte die üble Angewohnheit, Anekdoten von seinen Kindern zu erzählen. Wenn Lily sich an dieses erste Gefühl erinnerte, war es nicht um einen Vergleich anzustellen zu dem, das sie jetzt beherrschte; das einzig Vergleichbare war das Gefühl von Leichtigkeit, von Befreiung, das sie auch während der kurzen Zeit ihrer jugendlichen Romanze im Wirbel des Walzers oder der Abgeschiedenheit eines Wintergartens empfunden hatte. Bis zum heutigen Tag hatte sie diese Leichtigkeit, dieses Leuchten der Freiheit nicht wieder gekannt, aber diesmal war es mehr als das blinde Suchen des Blutes. Der besondere Zauber ihrer Gefühle für Selden lag darin, dass sie diese verstand; sie hätte ihren Finger auf jedes Glied der Kette legen können, die sie und ihn immer enger verband. Obwohl seine Beliebtheit von der ruhigen Art war, von seinen Freunden eher gefühlt als aktiv ausgedrückt, hatte sie nie den Fehler begangen, seine unauffällige Art für einen Mangel an Bedeutsamkeit zu halten. Sein Ruf, gebildet zu sein, wurde im Allgemeinen als ein gewisses Hindernis im Umgang mit ihm betrachtet, aber Lily, die stolz auf ihre liberale Hochschätzung der Literatur war und immer einen Omar Khayam9 in ihrer Reisetasche hatte, wurde von dieser Eigenschaft gerade angezogen, deren Vorzüge in einer Gesellschaft mit älteren Traditionen, das sagte ihr ihr Gefühl, eher anerkannt worden wären. Darüber hinaus besaß er die Gabe, seiner Rolle gemäß auszusehen, groß genug zu sein, um den Kopf höher als die Menge tragen zu können, und scharf geschnittene, dunkle Gesichtszüge zu haben, die ihm in einem Land eher ungeformter Menschentypen den Ausdruck von jemandem verliehen, der einer reiner ausgeprägten Rasse angehörte und die Merkmale einer einheitlichen Vergangenheit trug. Überschwängliche Menschen fanden ihn ein wenig nüchtern, und sehr junge Mädchen hielten ihn für sarkastisch, aber seine freundlich-distanzierte Haltung, so weit wie nur irgend möglich davon entfernt, einen persönlichen Vorteil geltend zu machen, war gerade die Eigenschaft, die Lilys Interesse erregte. Alles an ihm kam dem wählerischen Element in ihrem Geschmack entgegen, sogar die leichte Ironie, mit der er all das betrachtete, was ihr als das Heiligste erschien. Vielleicht bewunderte sie ihn am meisten dafür, dass er ein ebenso ausgeprägtes Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln wusste wie der reichste Mann, den sie je getroffen hatte.
Es war das unbewusste Weiterspinnen dieses Gedankens, das sie plötzlich mit einem Lachen sagen ließ: »Ich habe heute Ihretwegen zwei Verabredungen abgesagt. Und Sie, wie viele haben Sie um meinetwillen abgesagt?«
»Keine«, sagte Selden ruhig. »Meine einzige Verabredung auf Bellomont galt Ihnen.«
Sie blickte zu ihm herunter und lächelte ein wenig.
»Sind Sie wirklich nach Bellomont gekommen, um mich wiederzusehen?«
»Natürlich bin ich das.«
Sie blickte tief in Gedanken versunken vor sich hin. »Warum?«, fragte sie leise, mit einer Betonung, die der Frage jeden Anflug von Koketterie nahm.
»Weil Sie für mich ein wunderbares Schauspiel sind; ich sehe immer wieder gern, was Sie gerade so treiben.«
»Woher wollen Sie denn wissen, was ich tun würde, wenn Sie nicht da wären?«
Selden lächelte. »Ich schmeichle mir nicht, dass mein Kommen den Gang Ihrer Handlungen auch nur um Haaresbreite verändert hätte.«
»Das ist doch absurd – denn, wenn Sie nicht hier wären, könnte ich ja wohl offensichtlich nicht mit Ihnen spazieren gehen.«
»Nein, aber der Spaziergang mit mir ist nur eine andere Art, Ihr Material einzusetzen. Sie sind eine Künstlerin, und ich bin nun einmal die Farbe, von der Sie heute Gebrauch machen. Es gehört zu Ihrer Klugheit, mit Vorbedacht gewählte Effekte wie improvisiert einzusetzen.«
Auch Lily musste lächeln, seine Worte waren zu geistreich, als dass sie ihren Sinn für Humor nicht angesprochen hätten. Es war wahr, dass sie seine zufällige Anwesenheit für ihr Vorhaben ausnutzen wollte, oder das war zumindest der Vorwand, den sie sich zurechtgelegt hatte, um ihr Versprechen, mit Mr. Gryce einen Spaziergang zu machen, nicht einlösen zu müssen. Man hatte ihr so manches Mal vorgeworfen, sie sei zu ungeduldig; sogar Judy Trenor hatte sie gewarnt, nicht zu schnell vorzugehen. Nun gut, in diesem Fall würde sie nicht voreilig sein; sie würde ihren Verehrer das Gefühl der Spannung auskosten lassen. Wo Pflicht und eigene Vorlieben so schön zusammenfielen, lag es nicht in Lilys Natur, sie gewaltsam auseinanderzuhalten. Sie hatte ihr Fernbleiben von diesem Spaziergang mit Kopfweh entschuldigt, mit eben dem schrecklichen Kopfweh, das sie am Morgen schon nicht hatte zur Kirche gehen lassen. Und ihr Erscheinen beim Mittagessen rechtfertigte ihre Entschuldigung. Sie wirkte matt, voll leidender Sanftheit und trug ein Riechfläschchen in der Hand. Mr. Gryce waren solche Zeichen der Schwäche völlig neu an ihr; er fragte sich ziemlich nervös, ob sie wohl eine delikate Gesundheit habe, und hegte reichlich voreilige Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft seiner Nachkommenschaft. Aber sein Mitgefühl siegte für dieses Mal, und er bat sie dringend, sich keinen Unbilden der Witterung auszusetzen; er verband frische Luft immer mit gefährlichem Ausgesetztsein.
Lily nahm sein Mitgefühl mit matter Dankbarkeit entgegen und drängte ihn, wo sie doch so wenig amüsante Gesellschaft abgeben würde, sich den anderen anzuschließen, die nach dem Mittagessen sich zu einem Besuch im Automobil zu den Van Osburghs nach Peekskill aufmachen wollten. Mr. Gryce war gerührt von ihrer Selbstlosigkeit, und um der drohenden Leere des Nachmittags zu entgehen, war er ihrem Ratschlag gefolgt und traurig davongefahren, ausgerüstet mit Staubhaube und riesiger Schutzbrille; als der Wagen die Allee hinunterfuhr, musste sie lächeln, so sehr glich er einem verwirrten Käfer in diesem Aufzug.
Selden hatte ihre List mit trägem Amüsement beobachtet. Sie hatte ihm auf seinen Vorschlag, den Nachmittag zusammen zu verbringen, keine Antwort gegeben, aber als ihre Pläne sich vor seinen Augen entfalteten, nahm er mit ziemlicher Sicherheit an, in diese eingeschlossen zu sein. Das Haus war leer, als er endlich ihre Schritte auf der Treppe hörte und langsam aus dem Billardzimmer kam, um sich ihr anzuschließen. Sie trug einen Hut und ein Kleid zum Spazierengehen, und die Hunde sprangen um ihre Füße herum.
»Ich fand dann doch, dass ein wenig frische Luft mit guttun würde«, erklärte sie, und er meinte zustimmend, ein so einfaches Heilmittel wäre sicher einen Versuch wert.
Die Ausflügler würden mindestens vier Stunden unterwegs sein; Lily und Selden hatten den ganzen Nachmittag vor sich, und das Gefühl von freier Zeit und Sicherheit machte die Heiterkeit ihrer Stimmung vollkommen. Mit so viel Zeit sich zu unterhalten, ohne ein festgesetztes Thema ansprechen zu müssen, konnte Lily einmal die seltenen Freuden geistigen Vagabundentums genießen.
Sie fühlte sich so vollkommen frei von Hintergedanken, dass sie seine Andeutungen ein wenig unwillig aufnahm.
»Ich weiß wirklich nicht«, sagte sie, »warum Sie mir immer vorwerfen, ich würde alles im Voraus planen.«
»Ich dachte, Sie hätten