Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618814
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er kam in eine drei Meilen entfernt gelegene Zweigstelle des Armenhauses, wo zwanzig oder dreißig andere kleine Missetäter, die mit dem Armengesetz in Konflikt geraten waren, den ganzen Tag auf dem Boden umhertollten, ohne dabei von allzu viel Nahrung oder Kleidung behelligt zu werden. Sie standen unter der fürsorglichen Aufsicht einer älteren Dame, die die Übeltäter für siebeneinhalb Pence pro kleinem Kopf und Woche beherbergte. Siebeneinhalb Pence die Woche sind ein beachtlicher Betrag für den Unterhalt eines Kindes. Für siebeneinhalb Pence bekommt man eine Menge zu essen, jedenfalls genug, um einem Kind den Magen zu verderben, so dass es sich unwohl fühlt. Die ältere Dame war eine weise und erfahrene Frau. Sie wusste, was gut für die Kinder war, und sie besaß eine ganz genaue Vorstellung davon, was gut für sie selber war. Also verwendete sie den größeren Teil des Kostgeldes für den eigenen Bedarf und setzte die heranwachsenden Heimkinder auf noch schmalere Kost, als ursprünglich für sie vorgesehen war. Indem sie also zeigte, dass es auch für jene, die bereits ganz unten sind, noch weiter bergab gehen kann, erwies sie sich als große Expertin der angewandten Philosophie.

      Wir alle kennen die Geschichte eines anderen Vertreters der angewandten Philosophie, der die kühne These vertrat, ein Pferd könne ohne Futter überleben. Zum Beweis setzte er sein Pferd auf immer strengere Diät, bis es schließlich tatsächlich nur noch einen Strohhalm pro Tag benötigte. Aus dem Tier würde auch ohne Frage bald ein kraftstrotzendes und feuriges Ross geworden sein, das keinerlei Nahrung mehr bedurfte, wäre es nicht just vierundzwanzig Stunden, bevor es seinen ersten leckeren Bissen Luft zu sich nehmen sollte, überraschend gestorben. Unglücklicherweise führte die angewandte Philosophie der Dame, in deren Obhut Oliver Twist überstellt worden war, zu ähnlichen Ergebnissen. Gerade in dem Augenblick, wenn ein Kind es fertigbrachte, von der kleinstmöglichen Portion der dürftigsten Nahrung zu leben, geschah es seltsamerweise in achteinhalb von zehn Fällen, dass es aufgrund des Mangels und der Kälte erkrankte, unbeaufsichtigt ins Feuer fiel oder durch eine Unachtsamkeit halb erstickte. In jedem dieser Fälle wurden die armen kleinen Wesen für gewöhnlich ins Jenseits abberufen, zu ihren Vätern, die sie im Diesseits nie gekannt hatten.

      Wenn zuweilen eine genauere Untersuchung als gewöhnlich stattfand, weil ein Kind beim Aufschütteln des Betts übersehen oder an den Badetagen versehentlich zu Tode verbrüht worden war – obwohl dies nicht oft geschah, da die seltenen »Badetage« im Heim ihren Namen kaum verdienten –, dann kam es den Gerichten schon einmal in den Sinn, unbequeme Fragen zu stellen, oder aufsässige Gemeinderäte setzten ihre Unterschrift unter Beschwerdebriefe.

      Aber derartigen Unverschämtheiten wurde schnell durch Zeugnis und Aussage von Amtsarzt und Büttel Einhalt geboten. Der eine hatte stets den Leichnam geöffnet und nichts gefunden (was ja auch zu erwarten gewesen war), und der andere sagte aus, was immer die Ratsleute hören wollten, was von großem Pflichtbewusstsein kündet. Außerdem statteten die Vorstände des Armenhauses dem Heim regelmäßig Besuche ab, wobei sie sich stets einen Tag zuvor vom Büttel ankündigen ließen. Wenn sie eintrafen, waren alle Kinder stets sauber und ordentlich anzusehen, was wollte man mehr!

      Es stand nicht zu erwarten, dass in diesen Heimen eine blühende Kinderschar herangezogen wurde. An seinem neunten Geburtstag war Oliver Twist ein dünnes blasses Kind von etwas zu kleinem Wuchs und entschieden zu geringem Körperumfang. Aber Natur oder Vererbung hatten ihm einen unbeugsamen Geist in die Brust gepflanzt. Dieser konnte sich dank der spärlichen Kost des Heimes ungehindert ausbreiten, und vielleicht ist es gar ihm zuzuschreiben, dass Oliver seinen neunten Geburtstag überhaupt erlebte. Wie dem auch sei, es war jedenfalls sein neunter Geburtstag, und er beging ihn gerade im Kohlenkeller, in der erlesenen Gesellschaft zweier anderer junger Herren, die, nachdem sie alle drei eine gehörige Tracht Prügel bezogen hatten, darin eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein, als Mrs. Mann, die ehrwürdige Leiterin des Heimes, von dem gänzlich unerwarteten Erscheinen Mr. Bumbles aufgeschreckt wurde, dem Büttel der Gemeinde, der sich vergeblich mühte, das Gartentor zu öffnen.

      »Ach du meine Güte, Mr. Bumble, seid Ihr’s wirklich, Sir?«, rief Mrs. Mann, während sie mit gespielter Freude ihren Kopf zum Fenster hinausstreckte. »(Schnell, Susan, hol Oliver und die beiden andern Bengel aus’m Keller und schrubb sie ab!) Bei meiner Seel, Mr. Bumble, da freu ich mich aber, Euch zu sehen!«

      Nun war Mr. Bumble ein beleibter Mensch von aufbrausendem Charakter, der, statt diese herzliche Begrüßung ebenso zu erwidern, am kleinen Gartenpförtchen rüttelte und ihm einen Tritt versetzte, wie es nur ein Büttel zu tun vermochte.

      »Mein Gott, wie dumm«, sagte Mrs. Mann und eilte hinaus, denn inzwischen waren die drei Knaben aus ihrem Verlies befreit, »wie schrecklich dumm von mir! Wie konnt ich bloß vergessen, dass ich der lieben Kleinen wegen das Tor verriegelt habe! Kommt herein, Mr. Bumble, ich bitt Euch, Sir, tretet ein!«

      Obwohl diese Einladung von einem Knicks begleitet wurde, der vielleicht das Herz eines Kirchenvorstands besänftigt haben mochte, ließ sich der Büttel davon keineswegs beschwichtigen.

      »Mrs. Mann«, hob Mr. Bumble an und griff seinen Stock fester, »haltet Ihr es vielleicht für ein respektvolles und angemessenes Benehmen, Amtspersonen der Gemeinde am Gartentor warten zu lassen, wenn sie in Amtsgeschäften vorstellig werden, die die Waisenkinder der Gemeinde betreffen? Darf ich Euch daran erinnern, dass Ihr Angestellte und Kostgängerin der Gemeinde seid?«

      »Gewiss doch, Mr. Bumble, ich wollte ja nur einigen der lieben Kleinen, die so an Euch hängen, Euer Kommen ankündigen«, entgegnete Mrs. Mann unterwürfig.

      Mr. Bumble besaß eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und der Würde seines Amtes. Die eine hatte er unter Beweis gestellt, die andere verteidigt, also war er’s zufrieden.

      »Nun gut, Mrs. Mann«, antwortete er in milderem Ton, »sei es, wie Ihr’s sagt. Lasst uns hineingehen, denn ich bin in offizieller Angelegenheit hier und habe Euch etwas mitzuteilen.«

      Mrs. Mann geleitete den Büttel in eine kleine Stube mit Steinfußboden, schob ihm einen Stuhl hin und plazierte Dreispitz und Stock sorgfältig vor ihm auf dem Tisch. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß, den die körperliche Anstrengung hervorgerufen hatte, von der Stirn, betrachtete selbstgefällig den Dreispitz und lächelte. Ja, er lächelte. Auch Büttel sind Menschen, und Mr. Bumble lächelte.

      »Ich möchte Euch ja nicht zu nahe treten«, bemerkte Mrs. Mann mit bezwingender Liebenswürdigkeit, »aber Ihr habt einen langen Fußmarsch hinter Euch, wisst Ihr, sonst würde ich es ja gar nicht erwähnen. Wie wär’s also mit einem kleinen Schlückchen zur Stärkung, Mr. Bumble?«

      »Keinen Tropfen. Keinen einzigen Tropfen«, entgegnete Mr. Bumble und winkte mit der rechten Hand bestimmt, aber nicht unfreundlich ab.

      »Es würde Euch aber guttun«, hakte Mrs. Mann nach, die den Tonfall der Weigerung und die begleitende Geste wohl bemerkt hatte. »Nur’n kleines Schlückchen, mit etwas kaltem Wasser und einem Stückchen Zucker.«

      Mr. Bumble hüstelte.

      »Nur’n kleines Schlückchen«, sagte Mrs. Mann einschmeichelnd.

      »Was habt Ihr denn da?«, erkundigte sich der Büttel.

      »Nun, wovon ich immer ein wenig im Hause haben muss, um es den lieben Kleinen in die Medizin zu mischen, wenn sie krank sind«, erwiderte Mrs. Mann, als sie ein Eckschränkchen öffnete, dem sie Flasche und Glas entnahm. »Es ist Gin, Mr. Bumble, ich sag’s Euch ganz ehrlich.«

      »Ihr mischt den Kindern Gin in die Medizin, Mrs. Mann?«, fragte Bumble und verfolgte aufmerksam, wie Mrs. Mann den Trunk zubereitete.

      »Ja, Gott segne sie, das tue ich, auch wenn’s mich teuer zu stehen kommt«, erwiderte die alte Pflegemutter. »Wisst Ihr, Sir, ich kann sie einfach nicht leiden sehen.«

      »Nein«, pflichtete Mr. Bumble ihr bei, »das könnt Ihr nicht. Ihr seid eine herzensgute Frau, Mrs. Mann.«

      Sie stellte ihm das Glas hin.

      »Das werde ich bei nächster Gelegenheit auch dem Vorstand mitteilen, Mrs. Mann.«

      Er zog das Glas näher zu sich heran.

      »Ihr seid den Kindern eine wahre Mutter, Mrs. Mann.«