Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618814
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      Charles Dickens

      Oliver Twist

      oder

      Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

      Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und Nachwort von Axel Monte

      Reclam

      Englischer Originaltitel:

      Oliver Twist; or, The Parish Boy’s Progress

      2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

      Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2021

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961881-4

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020631-7

       www.reclam.de

      Erstes Kapitel

      Wo Oliver Twist zur Welt kam und die Umstände seiner Geburt.

      Unter anderen öffentlichen Gebäuden einer gewissen Stadt, die ich aus vielerlei guten Gründen weder benennen noch ihr einen erfundenen Namen geben möchte, befand sich eines, das seit alters her in den meisten Städten, ob groß oder klein, vorhanden ist, nämlich ein Armenhaus. In diesem Haus wurde an einem Datum, das ich hier nicht zu erwähnen brauche, zumal es für den Leser im Moment nicht weiter von Belang ist, der kleine Erdenbürger geboren, dessen Name in der Überschrift dieses Kapitels geschrieben steht.

      Noch eine ganze Weile, nachdem er vom Amtsarzt in diese Welt voll Kummer und Leid befördert worden war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind überleben und überhaupt einen Namen benötigen würde. In diesem Fall wäre die vorliegende Geschichte sehr wahrscheinlich nie erschienen, oder wenn, dann gebührte ihr, weil auf wenige Seiten beschränkt, das unschätzbare Verdienst, die kürzeste und genaueste Biographie in der Literatur aller Zeiten und Länder zu sein.

      Auch wenn ich keineswegs grundsätzlich behaupten möchte, eine Geburt im Armenhaus sei das allerglücklichste und beneidenswerteste Schicksal, das einem Menschen widerfahren kann, möchte ich in diesem besonderen Fall doch sagen, dass es das Beste war, was Oliver Twist passieren konnte. Es bedurfte nämlich vieler Mühen, Oliver dazu zu bewegen, selbständig zu atmen; eine zwar beschwerliche, doch für unser Wohlergehen unerlässliche Tätigkeit. Einen Augenblick lang lag er keuchend auf einer kleinen, mit Wollfetzen gefüllten Matratze, unentschlossen zwischen Diesseits und Jenseits schwankend, aber eher dem letzteren zugeneigt. Wäre Oliver nun während dieser kurzen Zeitspanne von besorgten Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Krankenschwestern und kunstfertigen Ärzten umgeben gewesen, hätte er unweigerlich im Nu das Zeitliche gesegnet. Da jedoch nur eine Armenhäuslerin, die aufgrund des Genusses eines ungewohnten Quantums Bier leicht benebelt war, und ein Amtsarzt, der dies bloß als lästige Pflichterfüllung betrachtete, zugegen waren, mussten Oliver und die Natur die Sache unter sich ausmachen.

      Nach kurzem Kampf stand das Ergebnis fest: Oliver begann zu atmen, nieste und setzte dann dazu an, den Bewohnern des Armenhauses zu verkünden, dass der Gemeindekasse eine neue Bürde auferlegt worden war, indem er so laut schrie, wie man es von einem männlichen Säugling eben erwarten konnte, der erst seit dreieinviertel Minuten über das höchst nützliche Organ einer Stimme verfügte.

      Als Oliver dieses erste Zeugnis einer einwandfreien Lungentätigkeit ablegte, regte sich etwas unter der Flickendecke, die nachlässig über das eiserne Bettgestell geworfen worden war. Das bleiche Gesicht einer jungen Frau erhob sich mühsam vom Kissen, und eine dünne Stimme formte kaum vernehmbar die Worte: »Lasst mich das Kind sehen und sterben.«

      Der Arzt saß am Kamin, wo er sich die Hände abwechselnd rieb und am Feuer wärmte. Als die junge Frau sprach, erhob er sich, ging zum Bett hinüber und sagte sanfter, als man es von ihm erwartet hätte: »Na, na, wer wird denn gleich ans Sterben denken?«

      »Gott segne ihre arme Seele, nein!«, warf die Pflegerin ein und stopfte hastig eine grüne Glasflasche, deren Inhalt sie sich zuvor in einer Ecke mit augenscheinlichem Behagen hatte munden lassen, in die Tasche. »Gott segne ihre arme Seele. Wenn se ersma so alt is wie ich, Sir, un dreizehn Blagen zur Welt gebracht hat, die alle gestor’m sind, außer den beiden, die mit mir im Armenhaus leben, dann wird se schon zur Vernunft kommen, die arme Seele. Denkt doch, was es heißt, Mutter von so nem hübschen kleinen Kerlchen zu sein!«

      Diese tröstliche Aussicht auf künftige Mutterfreuden verfehlte offensichtlich die beabsichtigte Wirkung. Die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach dem Kind aus.

      Der Doktor legte es ihr in die Arme. Sie drückte ihre kalten, bleichen Lippen leidenschaftlich auf Olivers Stirn, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, blickte wild umher, schauderte, sank zurück … und verstarb. Sie rieben der Frau Hände, Brust und Schläfen, aber ihr Herz hatte für immer zu schlagen aufgehört. Sie sprachen von Zuversicht und Hoffnung, doch beides war ihr schon zu lange fremd gewesen.

      »Jetzt ist es vorbei, Mrs. Thingummy«, sagte der Amtsarzt schließlich.

      »So sieht’s aus, die Ärmste«, pflichtete die Pflegerin bei und griff sich den Korken der grünen Flasche, der aufs Kissen gefallen war, als sie sich vorgebeugt hatte, um das Kind aufzunehmen. »Armer Wurm.«

      »Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit«, sagte der Arzt und streifte sich bedächtig seine Handschuhe über. »Sehr wahrscheinlich wird es ein wenig unruhig sein. Gebt ihm dann einfach etwas Haferschleim.« Er setzte den Hut auf, blieb auf dem Weg zur Tür beim Bett stehen und bemerkte: »Hübsches junges Ding, wo kam sie eigentlich her?«

      »Sie wurde letzte Nacht gebracht«, erwiderte die alte Frau, »auf Anweisung des Amtsfürsorgers. Hat in der Gosse gelegen. Muss wohl ne ganze Weile gelaufen sein, denn ihre Schuhe war’n völlig durchgelatscht. Aber keiner weiß, woher sie kam oder wohin sie wollte.«

      Der Arzt beugte sich über den Leichnam und hob die linke Hand an. »Die alte Geschichte«, sagte er kopfschüttelnd, »kein Ehering. Also dann, gute Nacht!«

      Der Herr Mediziner begab sich zum Essen, und die Pflegerin, die nochmals dem Inhalt der grünen Flasche zugesprochen hatte, setzte sich auf einen Hocker ans Feuer, um den Säugling zu wickeln.

      Der kleine Oliver Twist bot das allerbeste Beispiel dafür, dass Kleider Leute machen! In die Decke gehüllt, die bis dahin sein einziges Kleidungsstück gewesen war, hätte er sowohl Kind eines Adligen als auch eines Bettlers sein können. Selbst ein Beobachter mit ausgeprägtem Standesbewusstsein hätte Schwierigkeiten gehabt, Olivers gesellschaftliche Stellung zu bestimmen. Aber jetzt, wo er in einen alten Kattunfetzen, der in langjährigem Gebrauch ergilbt war, gewickelt wurde, bekam er einen Stempel aufgedrückt und erhielt seinen Platz in der Gesellschaft zugewiesen: als Heimkind, als Waise aus dem Armenhaus, als halbverhungerter, kuschender Kuli, den man nach Belieben drangsalieren konnte – von allen verachtet, von niemandem bemitleidet.

      Oliver schrie aus Leibeskräften. Hätte er gewusst, dass er eine Waise und der fragwürdigen Gnade von Kirchenvorständen und Amtsfürsorgern ausgeliefert war, vielleicht würde er dann noch lauter geschrien haben.

      Zweites Kapitel

      Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und ernährt wurde.

      In den nächsten acht oder zehn Monaten fiel Oliver einem planmäßigen Betrug und Verrat zum Opfer. Er wurde mit dem Fläschchen großgezogen. Die Verwaltung des Armenhauses meldete den ausgehungerten und beklagenswerten Zustand des verwaisten Säuglings pflichtschuldigst an die Verwaltung der Gemeinde. Die Gemeindeverwaltung erkundigte sich in aller Form bei der Armenhausverwaltung, ob es denn »im Hause« keine Frau gebe, die in der Lage sei, Oliver Twist mit der Nahrung und dem Trost zu versorgen, derer er bedürfe. Die Verwaltung des