Ich befinde mich in einem Camp, einem alten Militärgefängnis, in dem Flüchtlinge registriert werden. Ich bin freiwillig aus Deutschland gekommen, um Flüchtlingen zu helfen. In den Zelten und Containern des Camps warten sie darauf, endlich mit der Fähre aufs griechische Festland fahren zu dürfen – oder zurück in ihre trostlose Heimat geschickt zu werden, wo ein gefährlicher Krieg tobt. Ich selbst bin mit dem Flugzeug nach Lesbos gereist. Ich hatte ja keine Ahnung, was für prägende, schockierende, aber auch schöne Erfahrungen auf mich zukommen würden. Zwei Wochen voller Begegnungen mit fremden Menschen und mit ihren Träumen. Träume, die wahrscheinlich nie erfüllt werden würden. Zwei Wochen voller unglaublicher Gastfreundschaft und Nächstenliebe. Zwei Wochen voller Zucker und schwarzem Tee. Und zwei Wochen mit vielen Kindern aus dem Nahen Osten und Zentralasien, die einfach nur Liebe brauchen.
Schon nach einem Tag im Camp habe ich meine Freunde gefunden: die Afghanen. Wenn man mich gesucht hat, hat man mich meistens dort gefunden, bei den Farsi-Sprachigen aus dem Iran und Afghanistan. Ich bin für den Familientrakt des Camps eingeteilt, der nicht wie sonst üblich aus Zelten, sondern aus mit Stacheldraht und hohen Zäunen umgebenen Wohncontainern besteht. Es wirkt ein wenig wie im Gefängnis. Ich sehe Kinder, die mit kaputten Zeltstangen auf dem Lehmboden spielen. Die größeren bewerfen andere syrische Kinder mit Steinen, einfach weil sie keine Beschäftigung haben – und weil die anderen eben anders sind. Frustrierend.
Ich bin Teil eines Zweierteams. Wir kontrollieren ID-Cards mit dem Code des Farsi-Trakts am einzigen Eingangstor. Außerdem helfen wir Familien mit Informationen, Kleidern, Essensausgabe oder einfach nur mit etwas Aufmerksamkeit. Die schönste Aufgabe ist, mit den Kindern zu spielen. Manchmal reicht es, wenn ich meine Arme ausbreite und mit einem traurigen kleinen Jungen Flugzeug spiele und ihn damit zum Lachen bringe. Oder wir spielen Fangen und ich renne mit den Kids den kurzen Gang zwischen Zaun und Wohncontainern hinunter. Bis die Väter aus der anderen Kultur mich verwundert fragen, warum ich mit meinen 19 Jahren immer noch so kindisch sei und mit den Kleinen herumalbere.
Immer mehr wollen meine Aufmerksamkeit. Ich lerne ihre Geschichten, Träume und Familien kennen. All das gibt mir das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, schon einen Tag nach meiner Ankunft. Oft sitzt ein junger Mann namens Mahdi neben meinem Stuhl am Eingang des Trakts für die Afghanen. Ununterbrochen erzählt er vom schrecklichen Camp-Food, seiner Familie und dem verlorenen Zuhause in Afghanistan. Er wirkt ein wenig verloren, wie auf dem falschen Planeten gestrandet. Gerne plaudere ich mit ihm. Während der Zeit höre ich wohl um die 1 000 Mal sein Lieblingslied von Selena Gomez.
Einmal lädt Mahdi mich zu sich in seine Familie ein. Ich bekomme scharfes, sehr leckeres afghanisches Essen, süßen Tee und Früchte aufgetischt, und wir unterhalten uns entspannt über Kultur, Vorurteile und Deutschland – das Topthema im Camp, denn klar, jeder hier will nach »Germany«. »Mama Merkel, super!«, heißt es überall. Mitten im Gespräch ist ein lauter Klang zu hören. Mahdi rollt seinen Teppich aus und beginnt auf islamische Art zu beten. Einfach so. Vor meiner Nase. Was soll ich tun? Gehen? Bleiben? Seine Kinder drücken mir eine weitere Frucht in die Hand. Also schaue ich ihm beim Beten zu. Innerlich erfüllt mich in diesem besonderen Moment eine unglaubliche Trauer, dass ich ihm nichts weitergeben kann von meiner Hoffnung in Jesus Christus. Christliche Schriften und Bibeln sind in den Camps leider verboten. Aus Gründen der Religionsfreiheit, heißt es. Natürlich habe ich das Bedürfnis, den vielen hoffnungslosen und suchenden Menschen aus aller Welt die gute Nachricht zu erzählen. Schließlich glaube ich fest daran, dass Jesus lebt, und weiß aus eigener Erfahrung, welche Hoffnung aufkommt, wenn man Jesus begegnet. Jesus ist meine Lebensmitte – das nicht offen und frei erzählen zu dürfen, kostet Kraft.
An einem Abend sitze ich mit ein paar Mädchen zusammen und lerne Englisch und Farsi mit ihnen. Dann ein Knall, ohrenbetäubend. Wie von einer größeren Explosion. Alle Menschen laufen schreiend in entgegengesetzte Richtungen. Durch mein krächzendes Walkie-Talkie höre ich, dass ein Feuer ausgebrochen ist. Panik macht sich breit. Ich darf niemanden mehr raus- oder reinlassen, das ist meine Instruktion. Auf einmal bestürmen mich alle Familienväter und fragen besorgt, ob es mir denn gut geht. Sie helfen mir, das Tor zuzuhalten.
Als die Situation im Camp zu eskalieren beginnt und das Militär alle internationalen Helfer evakuiert, will ich nicht mit. Es ist doch meine Aufgabe, auf die Kinder und Familien aufzupassen – nicht, sie bei Gefahr im Stich zu lassen. Hilflos zurückgelassen werden, das haben sie doch sicher schon viel zu oft erlebt. Meine Teamkollegin zieht mich an der Hand den anderen Helfern hinterher. Draußen vor dem Camp beginnen wir zu beten und versuchen uns zu beruhigen. Kurze Zeit später muss ich zuschauen, wie alle Familien mit Sack und Pack aus dem Camp rennen. An einem sicheren Ort werden alle Helfer durchgezählt. Ein verletztes syrisches Ehepaar in unserer Mitte hört uns beim Beten zu. Mitten in der geladenen Ruhe plötzlich erneut Schreie. Eine syrische Frau liegt am Boden, sie brüllt vor Panik und wälzt sich hin und her. Traumatisiert vom Krieg haben die Bilder des Feuers und der Flüchtenden sie in Panik versetzt. Was tun? Unsere Teamleiter hüllen sie sanft in Decken ein. Nach und nach beruhigt sie sich wieder.
Am nächsten Tag ist im Camp alles wieder normal. Na gut, fast. Einiges muss repariert werden. Aber die Menschen hier sind Chaos gewöhnt, für sie ist das inzwischen Alltag. So war es schon in ihrer Heimat. Und auch in Europa, wo sie sich Besseres erhoffen, müssen sie mit derartigen Situationen umgehen. Dann läuft ein kleines Mädchen auf mich zu. »Warum bist du gestern weggegangen? Warum hast du mich nicht mitgenommen?« Mit großen Augen guckt sie mich an. Ja, warum nur hatte ich sie allein gelassen? Ihre Fragen treffen mich mitten ins Herz. Mir kommen Tränen. Natürlich durfte und konnte ich sie nicht einfach mitnehmen. Aber warum?
Wieder wird mir bewusst, dass ich trotz aller Liebe nicht zu diesen Menschen gehöre. Dass ich abends in mein Apartment mit warmer Dusche zurückkehren kann, während sie im kalten Lager mit weiteren zehn Familien auf den nächsten Tag warten. Ich kann den Flüchtlingen in ihrer Situation nur beistehen. Doch aus ihrer Situation heraushelfen kann ihnen nur einer: Jesus selbst. An diesem Abend bete ich intensiv für meine Freunde im Camp.
»Alibaba, alibaba!« – »Dieb, Dieb!« Die Flüchtlingskinder haben sich mal wieder mein Smartphone geschnappt und durchforsten es nach Videos und Musik. Ich lasse ihnen ihren Spaß, solange ich nur sehe, wer mein Handy hat, und es am Ende wiederbekomme. Nachdem ich kurz einer Familie das Tor geöffnet habe, ist es plötzlich still. Erstaunt drehe ich mich um. Die Kindergruppe starrt gebannt auf mein Handydisplay. Sie schauen sich ein Video an, das ich von Freunden zugeschickt bekommen habe; das Pantomime-Theaterstück Lifehouse Everything Drama. Es zeigt, wie Gott den Menschen erschaffen hat und wie sehr er ihn liebt. Wie die Sünde den Menschen verführte und Jesus für ihn stirbt – und wie Jesus unerwartet wieder aufersteht und den Menschen rettet. Ein Video mit christlicher Botschaft, auch ganz ohne Worte mehr als klar verständlich.
Mein erster Reflex ist, ihnen das Handy sofort wegzunehmen und das Video zu löschen, aus Angst vor der Reaktion der Muslime und der Aufseher im Camp. Doch die Kinder sind begeistert und schauen sich das kurze Video wieder und wieder an. Auch in den folgenden Tagen wollen sie es immer wieder sehen, und sie zeigen es anderen Kindern. Ich bete und hoffe, dass dieses kleine Video, meine gelebte Liebe und die vielen Gespräche mit den Menschen im Camp die Herzen meiner afghanischen Freunde bewegt haben. Dass die Saat aus meinem Einsatz im Laufe der Zeit aufgeht und sie eines Tages Gott, meinen liebenden Vater, kennenlernen. An diesem Abend beim Bibellesen jedenfalls macht Jesus mir Mut – durch die bekannten Worte:
Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen. Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich gepflegt. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.
Matthäus 25,35-36
Jesus kennt ihre Namen
Hamburg