Es ist Jesus, der uns darum bittet, mit den Fremden freundlich umzugehen und ihnen zu helfen. Wen sollen wir einladen? Und von wem erwarten wir unseren Lohn?
Deshalb werdet nicht müde zu tun, was gut ist. Lasst euch nicht entmutigen und gebt nie auf, denn zur gegebenen Zeit werden wir auch den entsprechenden Segen ernten.
Galater 6,9
Das Weihnachtsbaby
Bielefeld
Im Januar 2016 sitze ich abends auf einem zerschlissenen Stockbett im Asylantenheim und spiele mit ein paar Eritreern bei einem Glas Cola eine Runde Uno. Es ist richtig Stimmung in der stickigen Bude, wir lachen viel miteinander. Plötzlich klopft es, und alle schauen auf. Vor der Tür steht ein schmächtiger, junger Araber, der vor den vielen Afrikanern schüchtern erklärt, dass er mich gerne kennenlernen wolle. Er habe mich beim Betreten der Containersiedlung gesehen. In gebrochenem Deutsch bittet er, ob ich auch ihn und seine kleine Familie ein Stockwerk tiefer besuchen komme? Na klar, keine Frage. Nach der nächsten Runde lasse ich also die Eritreer mit meinem Freund Matze weiterspielen und folge Elamin, so heißt der junge Mann, in sein Zimmerchen.
Vor der Türe ziehe ich die Schuhe aus, wie es üblich ist bei Muslimen. Elamin und seine kleine, etwas korpulente Frau Chaïma, die bis aufs Gesicht voll verschleiert ist, erzählen, dass sie aus dem Irak stammen. Das junge Paar bittet mich lächelnd, auf einem zerkratzten, blauen Klappstuhl Platz zu nehmen, während sie selbst sich im Schneidersitz auf dem Bett mir gegenüber niederlassen. Mir ist etwas mulmig zumute, weil ich nicht weiß, was die beiden eigentlich von mir wollen. Mal schauen …
Elamin ist gastfreundlich. Er füllt ein Schnapsglas mit kochendem Wasser, rührt zwei gehäufte Teelöffel Nescafé und einen Riesenberg Zucker hinein und reicht mir seine Powermischung. Nachdem er sich selbst auch so eine Kaffeezuckerbombe gebraut hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als meine lächelnd zu trinken. Natürlich bekomme ich sofort eine zweite Portion nachgeschenkt, diesmal trinke ich sie ganz langsam und lasse das Gläschen auf keinen Fall leer werden. Ich frage den jungen Mann nach ihrer Flucht. Zuerst versteht er nicht recht. Dann ruft er seinen Nachbarn vom Zimmer nebenan dazu, einen Araber mittleren Alters, der schon besser Deutsch spricht, und unsere Unterhaltung kommt in Gang. Sie seien im November über die Balkanroute nach Deutschland gekommen – lange Strecken zu Fuß, versteht sich. Er und seine Frau. Plötzlich raschelt etwas in dem mit buntem Stoff zugehängten unteren Teil des zweiten Stockbetts im Raum. Erstaunt blicke ich auf.
Chaïma geht an das Bett, schlüpft unter den Vorhang und holt ein kleines Bündel hervor. Ein Baby! Stolz legt mir der schmächtige, dunkelhaarige Elamin seinen kleinen Hussein in den Arm. Und während ich völlig verdutzt den minikleinen Säugling auf meinem Schoß betrachte, erzählt er mir mit glänzenden Augen von der Geburt ihres Kindes.
Elamin und Chaïma sind vor dem Krieg aus Mossul im Irak geflüchtet, damals war Chaïma bereits schwanger. Dann haben sie in einem kleinen, schwarzen Schlauchboot das Mittelmeer nach Griechenland überquert, wie so viele Flüchtlinge im Jahr 2015. Sie zeigen mir auf ihrem Handy ein kurzes Video ihrer Überfahrt übers Meer. In dem Kurzfilm lacht das Paar in knallroter Rettungsweste wie bei einem Touristenausflug in die Kamera, während sich das völlig überladene, kleine Schlauchboot durch aufspritzende Wellen kämpft. Dieser Teil der Reise hat ihnen sichtlich Spaß gemacht, und sie sind gut angekommen. Allerdings hat sie die Überfahrt eine Menge Geld gekostet, erzählt er. Ein paar Monate sind sie in einem der provisorischen Lager in Griechenland hängen geblieben. Schließlich hat sich das junge Paar wieder auf den Weg gemacht. Die hochschwangere Frau hat mit ihrem Mann im regnerisch kalten November 2015 zu Fuß den Kosovo und Kroatien durchquert. Als sie von ihrem Fußmarsch über den Balkan erzählen, muss ich unweigerlich an Maria und Josef und die Weihnachtsgeschichte denken, wie sie sich seinerzeit, vor 2 000 Jahren, auf den Weg nach Bethlehem machen mussten.
Skurril wird der Abend, als ich sie frage, an welchem Tag denn ihr kleiner Hussein zur Welt gekommen ist? Er sei am 24. Dezember in einem Krankenhaus hier in Bielefeld geboren. Ich muss schlucken. Das ist ja quasi wirklich so, als würden Maria und Josef und ihr kleines Christkind vor mir sitzen und mich anlächeln. Unfassbar. Ob ich ihnen helfen könne? Elamin zeigt mir einige Papiere seines deutschen Arztes, die er nicht versteht. Deshalb also hat er mich zu sich geholt, das war der Grund. Selbstverständlich schaue ich mir gerne für ihn die Dokumente an. Ich nehme die Blätter, lese sie durch und erkläre ihm dann, was sein Arzt schreibt. Der hat ihm bestätigt, dass er eine Kriegsverletzung an der Schulter hat. Elamin hat manchmal heftige Schmerzattacken.
Bei den Kämpfen um Mossul ist sein Elternhaus ausgebombt worden. Schwere Trümmer sind auf seinen Rücken gestürzt und haben ihn innerlich verletzt. Der junge Vater muss dringend weiterbehandelt werden, damit er keine bleibenden Schäden zurückbehält. Gerne erkläre ich ihm, wie er zwei Tage später zu seinem nächsten Arzttermin findet.
Von diesem Abend an besuche ich das Weihnachtsbaby und seine jungen arabischen Eltern fast jede Woche. Sie fassen Vertrauen, und ich kann ihnen in vielen praktischen Belangen helfen. Schwer tun sie sich mit dem Deutschlernen, da habe ich schon andere Migranten erlebt, die schneller in unsere Sprache hineingefunden haben – doch auch mit der Sprache helfe ich ihnen nach Kräften.
Ein paar Wochen später passt es, dass ich Elamin das erste Mal von Jesus erzählen kann. Lächelnd zeige ich ihm in seinem Handy die Bibel-App und darin die Geschichte von Maria und Josef und dem kleinen Jesus-Baby aus Lukas zwei. Schweigend hört er zu und staunt, wie sehr die Geschichte ihrer eigenen Flucht der von Maryam, Yusuf und Isa gleicht, den wichtigsten Personen aus dem İncil, dem Neuen Testament. Das muss er mit geweiteten Augen sofort in Arabisch seiner Frau Chaïma erzählen, die sich neugierig geworden zu uns gesetzt hat.
Sie hat einen leckeren, süßen Kuchen auf den Tisch gestellt – die junge Mutter ist erstaunlich gut im Backen. Manchmal sind ihre Backwerke mit viel Zucker und Marzipan eine Spur zu mächtig für meinen sensiblen Magen, doch ich esse mich tapfer hindurch. Dazu wird guter dunkler Mokka gereicht. Während ich von dem leckeren Kirschkuchen esse, den sie uns heute zubereitet hat, liest Elamin ihr die ganze Weihnachtsgeschichte aus der Bibel-App auf seinem Handy vor. Es klingt schön, das Evangelium auf Arabisch. Stolz wiegt Chaïma den kleinen Hussein in ihren Armen, während sie lauscht. Die Weihnachtsgeschichte gibt ihrem Leben und ihrer Flucht eine neue Bedeutung. Die Irakerin ist sichtlich bewegt. Ihr kommen Tränen, als sie begreift, dass die Mutter des »Propheten Isa« als hochschwangere Frau einen ähnlich harten Weg hat gehen müssen wie sie selbst.
An diesem kalten Februarabend gehe ich bei sanftem Schneefall tief nachdenklich unter dem gedämpften Licht der Straßenlaternen nach Hause. Noch nie ist mir die Weihnachtsgeschichte so nahegerückt. Mit Elamin, Chaïma und dem kleinen Hussein habe ich wieder eine neue Seite von Jesus kennengelernt, er ist mir in dieser jungen arabischen Familie begegnet. Wie wird es der jungen Familie in Deutschland ergehen? Werden sie hier ein Zuhause und echte Freunde finden? Wird der kleine Hussein eine gute Zukunft haben? Ich komme einfach nicht an diesem Weihnachtskind vorbei, ich muss ihnen helfen. Denn ich bin sicher, dass das echte Christkind den kleinen Hussein und seine Eltern sehr liebt und ihnen Hoffnung schenken möchte.
Niemand hat Gott je gesehen. Doch sein einziger Sohn, der selbst Gott ist, ist dem Herzen des Vaters ganz nahe; er hat uns von ihm erzählt.
Johannes 1,18
Das Camp, die Kinder und ich
Lesbos, Griechenland
Lesbos ist die drittgrößte griechische Insel und liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Türkei. Sie machte in den vergangenen Jahren regelmäßig Schlagzeilen: als Flüchtlingsinsel. Wer an der Ostküste der