„Weil ich weiß, wie es wirklich um mich steht.“
„Woher wissen Sie das?“, fragte der Chefarzt ruhig.
„Ich fühle es.“
„Was fühlen Sie?“, wollte Dr. Härtling wissen.
„Dass ich alles andere denn über dem Berg bin, wie jedermann mir weismachen möchte.“
„Sie sind schwach“, sagte Dr. Härtling. „Sie haben Blut verloren. Und Gewicht. Sie hatten Schmerzen, haben wenig geschlafen. Das hat Sie mürbe gemacht.“
„Es hat mir die Augen geöffnet und mich erkennen lassen, wo ich gesundheitlich stehe. Warum hat keiner in diesem Haus die Courage, mir die Wahrheit zu sagen?“
„Sie bekommen pausenlos die Wahrheit zu hören“, entgegnete der Chefarzt, „aber es ist anscheinend nicht das, was Sie hören möchten.“
„Ich bin mit einer schweren Magenblutung in die Paracelsus-Klinik gekommen“, sagte der Patient matt. „Ich habe Blut erbrochen, das aussah wie Kaffeesatz. Und ich hatte einen Teerstuhl. Einer Ihrer Ärzte wollte mir einreden, meinem Leiden liege eine akute Magenschleimhauterkrankung zugrunde. Ein anderer Arzt sprach von einem aufgeplatzten Magengeschwür. Ich aber sage, es ist Krebs, und zwar soweit fortgeschritten, dass niemand mehr bereit ist, mich zu operieren, weil es ohnedies keinen Zweck mehr hat.“ Seine schmalen Lippen zuckten. „Man hat mich aufgegeben, speist mich mit schönen Worten ab und wartet auf das Ende.“ Das klang bitter, aber auch völlig verzweifelt.
„Sie sagten vorhin, Schwester Annegret wäre keine Ärztin“, sagte Sören Härtling, um einen sachlichen, emotionslosen Ton bemüht. „Haben Sie Medizin studiert?“
„Ich habe eine dreijährige Tischlerlehre absolviert“, antwortete der Patient.
„Sind Sie sicher, sich mit dieser Ausbildung eine zuverlässige Selbstdiagnose Zutrauen zu dürfen, Herr Rottmann?“, fragte der Klinikchef nüchtern.
Armin Rottmann zog die Augenbrauen zusammen und erwiderte dunkel: „Der Mensch spürt, wenn es mit ihm zu Ende geht, Dr. Härtling.“
„Manchmal irrt sich der Mensch.“ Der Klinikchef schob die Hände in seine Kitteltaschen. „Herr Rottmann, wir haben Sie so gründlich wie nur irgend möglich untersucht. Röntgen,
Gastrotest, Gastroskopie. Wir wissen haargenau, wie es in Ihnen aussieht, haben uns sehr genau in Ihrem Magen umgesehen und ein Ulcus ventriculi entdeckt, ein Magengeschwür, das nicht operiert zu werden braucht. Sie bekommen von uns sogenannte H2Blocker, das sind gut wirksame Medikamente, die die Säurebildung hemmen und wenn Sie sich das Rauchen abgewöhnen und scharfe Gewürze, heiße Speisen, Alkohol und Bohnenkaffee weitgehend meiden, kann ich Ihnen ein langes, beschwerdefreies Leben garantieren.“
Armin Rottmann schien nicht glauben zu können, was er hörte. „Ist das wahr?“
„Warum sollte ich Sie belügen?“
„Weil die Lüge sehr oft bequemer ist als die Wahrheit.“
Sören Härtling erwiderte: „Ich gebe zu, es gibt Situationen, da überlege ich mir sehr genau, ob ich einem Patienten die volle Wahrheit zumuten darf oder nicht. Bei Ihnen ist das jedoch nicht der Fall.“
„Ich werde nicht sterben?“
„Irgendwann müssen wir alle sterben“, meinte Sören, „aber bis dahin haben Sie noch sehr viel Zeit, Herr Rottmann.“ Er lächelte. „Sind Sie jetzt sehr enttäuscht?“
Der Patient schloss die Augen und schluckte mehrmals. Als er den Klinikchef wieder ansah, glänzten seine Augen feucht. „Gott, was müssen Sie nur von mir halten, Dr. Härtling?“
Sören lächelte aufmunternd. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“
„Als ich mich übergab... Als Blut kam... Da war ich so geschockt...“
„Ich kann Sie verstehen, Herr Rottmann.“
„Da da stand für mich fest, dass ich nicht mehr lange zu leben habe.“ „Sie machten daraufhin sämtliche Schotten dicht, ließen niemanden mehr an sich heran und hörten nicht mehr zu, wenn wir etwas sagten.“ „Ich hatte meine vorgefasste Meinung und hielt alles andere für unwahr“, übte der Patient verlegen Selbstkritik.
Dr. Härtling lächelte unbekümmert. „Ich kann damit leben.“
„Es tut mir leid, Ihnen und Ihren Mitarbeitern Unrecht getan zu haben“, sagte Armin Rottmann reumütig.
Dr. Härtling legte dem Mann die Hand versöhnlich auf die Schulter. „Ich schlage vor, wir vergessen das Ganze und Sie glauben nun wie wir, dass Sie bald wieder gesund sein werden.“
5
Laura Wieland, eine schöne Frau von vierundzwanzig Jahren, schwang ihre langen, wohlgeformten Beine aus dem Wagen ihres Verlobten.
Ein Windstoß warf ihr das lange blonde Haar ins Gesicht. Sie strich es mit einer anmutigen Handbewegung zurück und schloss die Autotür.
„Hoffentlich geht es Armin schon ein bisschen besser“, sagte sie mit belegter Stimme.
„Mein Bruder ist ein zäher Bursche“, erwiderte Jochen Rottmann. „Der packt das schon.“
„Wie kommt man zu so einem schlimmen Magengeschwür?“ Jochen Rottmann hob die Schultern. „Zuviel Stress... Zuviel Ärger... Zuviel Hektik... Zuviel Alkohol... Zuviel Nikotin... Und wenn man sich alles und jedes zu sehr zu Herzen nimmt.“ Er richtete den Blick auf die Paracelsus-Klinik. „Armin wird sein Leben drastisch umstellen müssen, wenn er nicht noch mal so schwer zusammenklappen will. Wie oft habe ich ihm gesagt: „Nimm's leicht. Ärgere dich doch nicht über jede Kleinigkeit. Rauch weniger. Trink weniger. Es ging bei einen Ohr hinein und beim anderen ungehört wieder raus. Vielleicht wird ihm dieser gesundheitliche Tiefschlag nun eine Lehre sein.“
„Das hoffe ich für ihn“, sagte Laura Wieland leise. „Er ist sehr nett. Ich habe ihn sehr gem.“
„Ich habe ihn auch sehr gern“, erklärte ihr Verlobter. Er ging um den Wagen herum, ein großer, gutaussehender, eleganter Mann mit sehr markanten Zügen. „Er ist mein Bruder. Aber manchmal ist er so ein fürchterlicher Dickschädel, dass ich ihm am liebsten...“ Er unterbrach sich, hatte unwillkürlich die Hand zur Faust geballt, öffnete diese nun wieder und machte eine wegwerfende Geste. „Komm, gehen wir zu ihm, Schatz. Sehen wir, wie es ihm heute geht.“
Als sie die Paracelsus-Klinik betraten, war der Assistenzarzt Dr. Jan Jordan gerade im Begriff, das Haus zu verlassen. Der junge Mediziner blieb kurz stehen, um Laura und ihren Verlobten zu begrüßen.
„Heute hat Herr Rottmann einen entscheidenden Schritt vorwärts getan“, berichtete er. „Dr. Härtling hatte ein längeres Gespräch mit ihm und die Worte unseres Chefs scheinen endlich auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein.“
„Das ist die erfreulichste Nachricht dieses Tages“, sagte Jochen Rottmann erleichtert. „Armin hat es nie gesagt, aber er machte auf mich den Eindruck, als hätte er mit seinem Leben abgeschlossen.“
„Das hatte er, doch unserem Chef gelang es, ihm das auszureden.“ Jochen Rottmann lachte. „Ihr Chef muss ihn hypnotisiert haben.“
„Oder er fand einfach die richtigen Worte zur richtigen Zeit“, gab der Assistenzarzt zurück, bat Laura Wieland und ihren Verlobten, ihn zu entschuldigen und eilte aus der Klinik.
Im Fahrstuhl knurrte Jochen Rottmann: „Es ist das Geschäft, das Armin so geschadet hat. Ich hasse es manchmal, unser Heimwerkerzentrum.“ .
„Du solltest stolz darauf sein, mit deinem Bruder so ein großes Unternehmen aufgebaut zu haben. Ihr macht beachtliche Umsätze.“
„Geld. Geld.“ Jochen schüttelte unwillig den Kopf. „Geld ist nicht