Zurück zum Cover: Seht Euch den schwarzhaarigen Mann in seinem eng anliegenden rot-blauen Outfit und seinem roten Cape an, wie er sich von links nach rechts entlang des Bildäquators bewegt. Das auffällige Emblem auf seiner Brust deutet ein „S“ an. Der Mann ist in vollem Schwung festgehalten, auf den Zehenspitzen seines linken Fußes, beinahe, als würde er zum Abflug ansetzen, während er mühelos das olivgrüne Auto über seinen Kopf stemmt. Mit beiden Händen zertrümmert er das Gefährt an einem Felsen. In der unteren linken Ecke stürmt ein Mann in blauem Anzug aus dem Bild, wobei er seinen Kopf ähnlich Edvard Munchs Schreihals in seinen Händen hält. Sein Gesicht ist erfüllt mit existentieller Angst, wie ein Mann, der durch das, was er gerade miterlebt, an die Grenzen seiner Vernunft getrieben wird. Über seinem Kopf sieht man einen anderen Mann in einem konservativ anmutenden Zweiteiler, der sich ebenso Richtung Bildrand verabschiedet. Ein dritter, nicht weniger erschütterter Protagonist kauert auf Händen und Knien am Boden und blickt ganz ohne Jacke auf den übermenschlichen Vandalen. Seine elende Haltung symbolisiert seine totale Unterwerfung gegenüber diesem ultimativen Alphamännchen. Einen vierten Mann gibt es nicht: Sein potentieller Platz in der rechten unteren Ecke des Bildes wird von einem Weißwandreifen, der von seiner Achse gerissen wurde, eingenommen. Ähnlich den glupschäugigen Ganoven versucht er, die Flucht vor diesem zerstörerischen Muskelmann zu ergreifen.
In den Händen jedes anderen würde der grüne Roadster des Covers stolz die technologische Überlegenheit Amerikas und die Wunder der Massenfabrikation repräsentieren. Man stelle sich die Werbung vor: „Luxuriöse Weißwandreifen lassen Sie wie auf Watte dahingleiten.“ Aber dies war nun einmal der Sommer 1938. Die Fließbandherstellung machte viele Arbeiter überflüssig, während Charlie Chaplins Modern Times pantomimisch den stillen Schrei des kleinen authentischen Mannes, der nicht vergessen werden hätte sollen, artikulierte.
Superman machte seinen Standpunkt klar: Er war ein Held des Volkes. Der ursprüngliche Superman war eine kühn-humanistische Antwort auf die Ängste, die die Ära der Weltwirtschaftskrise mit ihrem seelenlosen Industrialismus mit sich brachte. Diese frühe Inkarnation von Superman brachte gigantische Züge zum Stillstand, warf Panzer um oder stemmte Baukräne. Superman schrieb die Legende vom amerikanischen Volkshelden John Henry und seinem tapferen, wenn auch letztendlich vergeblichen Kampf gegen einen Dampfhammer zu einem Happy-End um. Er thematisierte die Träume des kleinen Kerls von der Straße. Er war wie Charlie Chaplin bereit, erbittert gegen die Ungerechtigkeit anzukämpfen, nur: An Stelle von Witz und Charme hatte Superman die Kraft von 50 Männern und war außerdem unverwundbar. Wenn die dystopischen Visionen dieser Zeit eine entmenschlichte und mechanisierte Welt prophezeiten, so stand Superman für eine Alternative: nämlich für eine von Menschen geprägte Zukunft, in der das Individuum über die Mächte der industriellen Unterdrückung siegen würde. Er war nicht weniger bescheiden und genauso stets auf Seiten der Armen wie ein in einem Stall geborener Erlöser.
Um noch einmal auf das Cover zurückzukommen: Bitte beachtet, wie die Komposition sich in einer unschwer zu erkennenden X-Form über das Bild erstreckt, was der Zeichnung ihr solides Gerüst und ihre grafische Ausstrahlung verleiht. Dieses unterschwellige X deutet auf die Faszination des Unbekannten hin, schließlich war Superman zu Zeiten dieser Erstausgabe auch nichts anderes: ein wandelndes Enigma im Umhang. Er steht in der Bildmitte, ein Meister über die vier Elemente und Himmelsrichtungen. Im haitianischen Voodoo steht eine Kreuzung als Pforte für das Geistwesen des Legba, einer weiteren Manifestation des „Gottes“, der u. a. auch schon als Merkur, Thoth, Ganesh, Odin oder Ogma verehrt wurde. Wie diese anderen Gottheiten ist Legba ein Torwächter, der das Grenzgebiet zwischen den Welten der Menschen und jener der Götter bewacht. Es macht absolut Sinn, dass Superman sich gleichfalls in so einem nexushaften Übergang aufhält.
Wie eine kompositorische Schranke erlaubte dieses „X“ Shuster, mehrere Elemente in eine Drehbewegung zu versetzen, welche die zentrale Figur hervorhob. Man sieht sich in Bewegung befindliche Menschen mit Ausdrücken auf ihren Gesichtern, grelle Farben, die jedoch, sorgfältig um die starke Struktur des „X“ gelegt, ein sekundäres, spiralartiges Arrangement formen, welches unsere visuelle Wahrnehmung auf eine Riesenradfahrt mitnimmt, fieberhafte Fragen aufwirft und so unseren Verstand in Bewegung setzt:
Warum hat der rennende Mann so eine Angst?
Was macht das Auto da oben?
Warum wird es gegen einen Felsen gehämmert?
Auf was blickt der kniende Mann?
Mit unserem heutigen Wissen können wir annehmen, dass die fliehenden, verängstigten Männer wohl irgendwelche Kriminelle sein dürften. Die Leser damals hatten aber überhaupt keine Ahnung, was da vor sich ging. Ganz offensichtlich ging es hier um Action, aber der erste Blick auf Superman war zwiespältig. Die Männer, die für uns eindeutig als Gangster zu identifizieren sind, hätten genauso nichts ahnende Passanten sein können, die sich vor einem Über-Halunken in einer Art russischem Ballettkostüm in Sicherheit bringen wollten. Schließlich sehen wir keine gestohlene Beute, welche aus Räubersäcken hervorquillt, keine unrasierten Visagen oder billige Anzüge – nicht einmal Waffen, die die Flüchtenden als etwas anderes als harmlose Zaungäste entlarven würden. Dem ersten Eindruck nach könnte dieser auffällige Muskelprotz Feind wie Freund sein – und die einzige Möglichkeit, alle Fragen aufzuklären, war: weiterzulesen.
Noch eine weitere Innovation bot dieses Cover, noch einen Taschenspielertrick, um uns in die Geschichte zu locken: Das Titelbild zeigt uns eine Momentaufnahme vom Höhepunkt einer Story, die wir noch nicht kennen. Zum Zeitpunkt, zu dem sich Superman der Welt vorstellt, bringt er ein Abenteuer zum Abschluss, das wir nun scheinbar bereits verpasst haben! Nur durch die Lektüre der Geschichte können wir dieses Bild in einen passenden Kontext setzen.
Dieses erste, unbetitelte Abenteuer Supermans explodierte seinen Lesern mit einem actionreichen Standbild entgegen. Siegel warf traditionellere Einstiege über Bord und schnitt direkt in der eröffnenden Panele zur Action, um so konventionelle Erzählweisen auf originelle Weise umzuarrangieren. Der Text verrät uns: „EINE RASTLOSE GESTALT EILT DURCH DIE NACHT, SEKUNDEN ZÄHLEN … VERZÖGERUNG HIESSE, EIN UNSCHULDIGES LEBEN ZU RISKIEREN.“ Diese Zeilen begleiten eine Illustration von Joe Shuster, die zeigt, wie Superman durch die Luft springt und eine gefesselte und geknebelte Frau unterm Arm hält. Das Bild strahlt so viel Kraft wie der Held selbst aus.
Ab der zweiten Panele haben wir das Anwesen des Gouverneurs erreicht. Superman sprintet bereits über den Rasen und wendet sich dabei an das verschnürte Mädchen im Bildvordergrund, das er bei einem Baum abgelegt hat: „BERUHIGE DICH! ICH KANN MICH JETZT NICHT UM DICH KÜMMERN.“ Wir wissen nicht, wer sie ist, obwohl Supermans grobes Verhalten auf eine üble Person hindeutet – außer, wie das Cover nicht abgeneigt ist zu unterstellen, der Protagonist ist ein Bösewicht.
Durch die Erzählweise werden wir von Supermans Geschwindigkeit mitgerissen und gezwungen, uns auf das Notwendigste in jeder Szene zu konzentrieren. Die einzige Lösung ist, sich an sein wehendes rotes Cape zu heften, immer einen Schritt hinter ihm.
Als der Butler des Gouverneurs dem muskelbepackten Fremden im hautengen Kostüm die Türe nicht öffnen will, zertrümmert dieser sie einfach, hastet die Treppen hoch, wobei er den lautstark protestierenden Adlatus über seinen Kopf hält. Dann reißt er eine Stahltür aus ihren Angeln und erreicht einen schockierten und sichtlich um seine Sicherheit besorgten Beamten. Der Butler hat sich inzwischen so weit gesammelt, dass er eine Waffe auf den Eindringling richten kann: „LEGEN SIE DAS SPIELZEUG NIEDER“, warnt ihn Superman. Der Butler drückt ab, muss aber feststellen, dass der muskulöse Held immun gegen Patronen ist, welche harmlos von seiner Brust abprallen.
Allein diese Ouvertüre dürfte die 10 Cent aus der Tasche eines nach Fantasie lechzenden Lesers zur Zeit der Weltwirtschaftskrise wert gewesen sein. Doch Siegel und Shuster waren noch nicht fertig. Sie hatten noch einen Trumpf im Ärmel.