„Seht! Ich lehre euch den Übermenschen:
Der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“
Friedrich Nietzsche | Also sprach Zarathustra
In Schottland, wo ich lebe, liegt ganz in der Nähe RNAD Coulport, wo die britische Atom-U-Bootflotte, ausgestattet mit Nuklearwaffen, stationiert ist. Dort, in unterirdischen Bunkern, so wurde mir erzählt, befindet sich mehr als 50 Mal die Sprengkraft, die nötig wäre, um die menschliche Bevölkerung unseres Planeten auszulöschen. Eines Tages, falls uns 50 böse Erden-Doppelgänger in einen Hinterhalt im Hyperraum locken sollten, könnte uns dieses mega-zerstörerische Arsenal ironischerweise den Hals retten – doch bis dahin erscheint es übertrieben und irgendwie auch sinnbildlich für die rastlose digitale Hypersimulation, die wir heute bevölkern.
In der Nacht sieht die spiegelverkehrte Reflexion der U-Boot-Docks auf dem Wasser aus wie eine geballte rote Faust, die an einer Fahne aus Wellen zerrt. Ein paar Meilen die gewundene Straße hinauf wurde einst mein Vater verhaftet, als er in den Sechzigern an den Anti-Atom-Demonstrationen teilnahm. Er war ein Veteran des 2. Weltkriegs aus der Arbeiterklasse. Sein Bajonett hatte er gegen einen Aufnäher, der für Abrüstung warb, getauscht, und er war nun zum pazifistischen „Spion für den Frieden“ in einer britischen Antikriegsorganisation geworden. Schon die Welt meiner Kindheit war eine, die erfüllt war mit einer stets zunehmenden Zahl von Abkürzungen und Codenamen des Kalten Kriegs.
Und die Bombe, immer diese Bombe, dieser grimmige und bedrohliche Gast, bereit, jede Minute hochzugehen und jeden und alles zu töten. Ihre Minnesänger waren schwermütige existenzialistische Folkmusiker, die ihre Klagelieder wie „Hard Rain“ oder „All on That Day“ herunterjammerten, während ich in der Ecke zitterte, das letzte Gericht und die totale Auslöschung erwartete. Die dazu passenden Bilder lieferten die radikalen, im Selbstverlag veröffentlichten Magazine, die mein Vater aus den politischen Buchläden auf der High Street mitbrachte. Typischerweise waren diese leidenschaftlich pazifistischen Manifeste mit schrecklichen, von Hand gezeichneten Bildern illustriert, die zeigten, wie die Welt nach einem thermonuklearen Schlagabtausch aussehen würde. Die Urheber dieser kadaverhaften Landschaften ließen dabei keine Möglichkeit ungenutzt, zerschlagene, ausgeblichene Skelette vor dem Hintergrund einer zerbombten und rußgeschwärzten Horrorvision abzubilden. Wenn der Künstler außerdem noch Platz für eine makabre Darstellung eines 800 Fuß hohen Sensenmannes auf einem ausgemergelten Ross des Grauens finden konnte, von dem aus dieser Raketen wie Getreide über den lückenhaften und halb geschmolzenen Horizont säte, dann war das umso besser.
Wie Visionen von Himmel und Hölle auf einem mittelalterlichen Triptychon lagen die post-atomaren Wüsten aus den Heften meines Dads neben den mit drei Sonnen gespickten Aussichten, welche die geliebten Science-Fiction-Taschenbücher meiner Mum zierten. Wie kleine Fenster in eine strahlende Zukunft boten sie Roboter-Amazonen in verchromten Einteilern, die gestrandete Weltraummänner über perlenfarbene Himmelszelte in unglaublich fremde Welten hetzten. Mit Seelen belastete Androiden schleppten sich durch neonfarbene Dschungel oder schritten über die Laufbänder, die durch Städte führten, die an eine architektonische Verschmelzung von Le Corbusier, Frank Lloyd Wright und LSD denken ließen. Die Titel erinnerten an surrealistische Dichtung: Der Tag, an dem der große Regen kam, Der Mann, der vom Himmel fiel, Die Mars-Chroniken, Blumen für Algernon, Eine Rose für Ecclesiastes, Barfuß im Kopf.
Im Fernsehen wechselten Bilder von heroischen Astronauten mit trostlosen Szenen aus Hiroshima und Vietnam: Es war wie eine Alles-oder-nichts-Entscheidung zwischen der Atombombe und einem Sternenschiff. Ich hatte mich zwar schon für eine Seite entschieden, doch wurde die Spannung des Kalten Kriegs zwischen Apokalypse und Utopia zunehmend unerträglich. Und schließlich prasselten die Superhelden auf der anderen Seite des Atlantiks in einer grellen, prismatischen Reflexion ihrer heraldischen Kostüme auf die Erde nieder und schufen neue Möglichkeiten, wie man diese Welt wahrnehmen konnte.
Großbritanniens erster Comicladen – der Yankee Book Store – öffnete in Paisley, vor den Toren Glasgows gelegen, ein paar Jahre nach dem Krieg. Es ist schon etwas ironisch, dass die Comics gemeinsam mit den amerikanischen Soldaten landeten, deren Raketen meine Existenz bedrohten. So wie frühe R&B- und Rock’n’Roll-Platten in Liverpool ankamen, um eine ganze Generation von Musikern zu inspirieren, so kamen die Comics wegen der militärischen Anlagen in den Westen von Schottland, beflügelten die Gedanken und änderten das Leben von Kindern wie mir für immer.
Die Superhelden lachten über die Bombe. Superman konnte auf der Oberfläche der Sonne spazieren und bekam dabei nur eine unmerkliche Bräune ab. Die Abenteuer des Hulks hatten gerade erst unmittelbar nach einem fehlgeschlagenen Experiment mit einer Gammastrahlenbombe begonnen, in das sein Alter Ego Bruce Banner verwickelt war. Im Schatten von Zerstörern kosmischen Ausmaßes wie Anti-Monitor oder Galactus wirkte die sonst allmächtige Bombe allerhöchstens provinziell. Ich hatte ein von unserer Welt abgetrenntes Universum entdeckt, einen Ort, an dem sich Dramen über Jahrzehnte erstreckten und Galaxien sich über die zweite Dimension der Papierseiten auftaten. Hier waren Männer, Frauen und noble Monster in Fahnen gewandet. Sie traten aus dem Schatten, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die Welt, in der ich lebte, fühlte sich bereits besser an. Ich begann zu verstehen, dass ich etwas gefunden hatte, das mir dabei half, mit meinen Ängsten klarzukommen.
Bevor es die Bombe gab, war sie bloß eine Idee.
Superman hingegen war eine stärkere, schnellere, bessere Idee.
Es war nicht so, dass Supermann für mich „real“ sein musste. Er musste nur realer sein als die Vorstellung von der Bombe, die mich in meinen Träumen heimsuchte. Ich hätte mich nicht sorgen müssen; Supermann ist so ein kraftvolles Produkt der menschlichen Vorstellungskraft, so ein perfekt entworfenes, freundliches, weises und zähes Symbol für uns selbst, dass die Bombe nicht den Funken einer Chance hatte. Mit Superman und den anderen Superhelden hatten moderne Menschen Ideen erschaffen, die unverwundbar waren, immun gegen Zerstörung. Erschaffen, um diabolische Superhirne auszutricksen, sich dem Bösen zu stellen und dabei – trotz verschwindend geringer Chancen – immer siegreich aus den Kämpfen hervorzugehen.
Ich betrat das Feld der amerikanischen Comics als Schreiber Mitte der Achtziger, einer Zeit des radikalen Umbruchs und technischen Fortschritts, als Meilensteine des Superheldengenres wie etwa Batman – Die Rückkehr des Dunklen Ritters oder Watchmen herauskamen und die Möglichkeiten – auch in puncto kreativer Freiheit – grenzenlos schienen. Ich war Teil einer Generation von Schreibern und Zeichnern, meist der britischen Arbeiterklasse entstammend, die in den morbiden Welten der Comic-Helden das Potenzial sahen, um ausdrucksstarke, erwachsene, anspruchsvolle Arbeiten zu schaffen, die das ausgedörrte Konzept des Superhelden mit neuer Relevanz und Vitalität erfüllten. In Folge wurden die Geschichten cleverer, die Illustrationen ausgereifter, und der Superheld erhielt ein neues Leben in Comic-Büchern, die gleichzeitig philosophisch, postmodern und sehr ambitioniert waren. In den letzten 20 Jahren haben Dutzende von einzigartigen und originellen Talenten erstaunliche und innovative Arbeiten vorgelegt. Die niedrigen Produktionskosten (Stift und Tusche können Szenarien erschaffen, die Millionen Dollar für eine Umsetzung auf der Leinwand kosten würden) und kurze Abstände zwischen den Veröffentlichungen sorgen dafür, dass in Bezug auf Comics alles möglich ist. Keine Idee ist zu bizarr, keine Wendung zu abstrus, kein Erzählstil zu experimentell. Mir ist die Tragweite von Comics, mir sind die großen Ideen und Emotionen, die sie transportieren können, nun schon lange bewusst. So sehe ich mit Staunen, und auch ein wenig mit Stolz erfüllt, die stetig fortlaufende friedliche Kapitulation der Mainstream-Kultur vor der unnachgiebigen Kolonisierung, die ihren Ursprung im Hinterland absonderlicher Streber, sogenannten Geeks, hat. Namen, die früher als obskure Erkennungszeichen unter Außenseitern galten, stehen nun im Mittelpunkt globaler Vermarktungskampagnen.
Batman, Spiderman, X-Men, Heroes, Iron Man. Weshalb sind die Superhelden so groß geworden? Und warum gerade jetzt?
Auf der einen Seite ist es einfach: Irgendjemand hat irgendwo spitzgekriegt, dass Superhelden – genau wie Schimpansen – alles unterhaltsamer machen. Eine langweilige Teegesellschaft?