Tony schlief fest und gut die erste Nacht in der Mengstraße, und sie stieg am nächsten Morgen, den 22. September, erfrischt und ruhigen Sinnes ins Frühstückszimmer hinunter. Es war noch ganz früh, kaum sieben Uhr. Nur Mamsell Jungmann war schon anwesend und bereitete den Morgenkaffee.
»Ei, ei, Tonychen, mein Kindchen«, sagte sie und sah sich mit kleinen, verschlafenen braunen Augen um; »schon so zeitig?«
Tony setzte sich an den Sekretär, dessen Deckel zurückgeschoben war, faltete die Hände hinter dem Kopf und blickte eine Weile auf das vor Nässe schwarz glänzende Pflaster des Hofes und den vergilbten und feuchten Garten hinaus. Dann fing sie an, neugierig unter den Visitkarten und Briefschaften auf dem Sekretär zu kramen …
Dicht beim Tintenfaß lag das wohlbekannte große Schreibheft mit gepreßtem Umschlag, goldenem Schnitt und verschiedenartigem Papier. Es mußte noch gestern abend gebraucht worden sein, und ein Wunder nur, daß Papa es nicht wie gewöhnlich in der Ledermappe und in der besonderen Schublade dort hinten verschlossen hatte.
Sie nahm es, blätterte darin, geriet ins Lesen und vertiefte sich. Was sie las, waren meistens einfache und ihr vertraute Dinge; aber jeder der Schreibenden hatte von seinem Vorgänger eine ohne Übertreibung feierliche Vortragsweise übernommen, einen instinktiv und ungewollt angedeuteten Chronikenstil, aus dem der diskrete und darum desto würdevollere Respekt einer Familie vor sich selbst, vor Überlieferung und Historie sprach. Für Tony war das nichts Neues; sie hatte sich manchesmal mit diesen Blättern beschäftigen dürfen. Aber noch niemals hatte ihr Inhalt einen Eindruck auf sie gemacht, wie diesen Morgen. Die ehrerbietige Bedeutsamkeit, mit der hier auch die bescheidensten Tatsachen behandelt waren, die der Familiengeschichte angehörten, stieg ihr zu Kopf … Sie stützte die Ellenbogen auf und las mit wachsender Hingebung, mit Stolz und Ernst.
Auch in ihrer eigenen kleinen Vergangenheit fehlte kein Punkt. Ihre Geburt, ihre Kinderkrankheiten, ihr erster Schulgang, ihr Eintritt in Mlle. Weichbrodts Pensionat, ihre Konfirmation … Alles war in der kleinen, fließenden Kaufmannsschrift des Konsuls sorgfältig und mit einer fast religiösen Achtung vor Tatsachen überhaupt verzeichnet: Denn war nicht der geringsten eine Gottes Wille und Werk, der die Geschicke der Familie wunderbar gelenkt?… Was würde hier hinter ihrem Namen, den sie von ihrer Großmutter Antoinette empfangen hatte, in Zukunft noch zu berichten sein? Und alles würde von späteren Familiengliedern mit der nämlichen Pietät gelesen werden, mit der jetzt sie die früheren Begebnisse verfolgte.
Sie lehnte sich aufatmend zurück, und ihr Herz pochte feierlich. Ehrfurcht vor sich selbst erfüllte sie, und das Gefühl persönlicher Wichtigkeit, das ihr vertraut war, durchrieselte sie, verstärkt durch den Geist, den sie soeben hatte auf sich wirken lassen, wie ein Schauer. »Wie ein Glied in einer Kette«, hatte Papa geschrieben … ja, ja! Gerade als Glied dieser Kette war sie von hoher und verantwortungsvoller Bedeutung, – berufen, mit Tat und Entschluß an der Geschichte ihrer Familie mitzuarbeiten!
Sie blätterte zurück bis ans Ende des großen Heftes, wo auf einem rauhen Foliobogen die ganze Genealogie der Buddenbrooks mit Klammern und Rubriken in übersichtlichen Daten von des Konsuls Hand resümiert worden war: Von der Eheschließung des frühesten Stammhalters mit der Predigerstochter Brigitta Schuren bis zu der Heirat des Konsuls Johann Buddenbrook mit Elisabeth Kröger im Jahre 1825. Aus dieser Ehe, so hieß es, entsprossen vier Kinder … worauf mit den Geburtsjahren und -tagen die Taufnamen untereinander aufgeführt waren; hinter demjenigen des älteren Sohnes aber war bereits verzeichnet, daß er Ostern 1842 in das väterliche Geschäft als Lehrling eingetreten sei.
Tony blickte lange Zeit auf ihren Namen und auf den freien Raum dahinter. Und dann, plötzlich, mit einem Ruck, mit einem nervösen und eifrigen Mienenspiel – sie schluckte hinunter, und ihre Lippen bewegten sich einen Augenblick ganz schnell aneinander – ergriff sie die Feder, tauchte sie nicht, sondern stieß sie in das Tintenfaß und schrieb mit gekrümmtem Zeigefinger und tief auf die Schulter geneigtem, hitzigem Kopf, in ihrer ungelenken und schräg von links nach rechts emporfliegenden Schrift: »… Verlobte sich am 22. September 1845 mit Herrn Bendix Grünlich, Kaufmann zu Hamburg.«
Vierzehntes Kapitel
»Ich bin vollkommen Ihrer Meinung, mein werter Freund. Diese Frage ist von Wichtigkeit und muß erledigt werden. Kurz und gut: Die traditionelle Barmitgift für ein junges Mädchen aus unserer Familie beträgt 70000 Mark.«
Herr Grünlich warf seinem zukünftigen Schwiegervater den kurzen und prüfenden Seitenblick eines Geschäftsmannes zu.
»In der Tat …«, sagte er, und dieses In der Tat war genau so lang wie sein linker goldgelber Backenbart, den er bedächtig durch die Finger gleiten ließ … Er ließ die Spitze los, als das In der Tat vollendet war.
»Sie kennen«, fuhr er fort, »verehrter Vater, die tiefe Hochachtung, die ich ehrwürdigen Überlieferungen und Prinzipien entgegenbringe! Allein … sollte im gegenwärtigen Falle diese schöne Rücksicht nicht eine Übertreibung bedeuten?… Ein Geschäft vergrößert sich … eine Familie blüht empor … kurzum die Bedingungen werden andere und bessere …«
»Mein werter Freund«, sprach der Konsul … »Sie sehen in mir einen Geschäftsmann von Kulanz! Mein Gott … Sie haben mich nicht einmal ausreden lassen, sonst wüßten Sie bereits, daß ich willig und bereit bin, Ihnen den Umständen entsprechend entgegenzukommen, und daß ich den 70000 schlankerhand 10000 hinzufüge.«
»80000 also …«, sagte Herr Grünlich; und dann machte er eine Mundbewegung, als wollte er sagen: Nicht zu viel; aber es genügt.
Man einigte sich in der liebenswürdigsten Weise, und der Konsul klapperte, als er sich erhob, zufrieden mit dem großen Schlüsselbund in seiner Beinkleidtasche. Erst mit den 80000 hatte er die »traditionelle Höhe der Barmitgift« erreicht. –
Hierauf empfahl sich Herr Grünlich und reiste nach Hamburg ab. Tony verspürte wenig von ihrer neuen Lebenslage. Niemand hinderte sie, bei Möllendorpfs, Langhals', Kistenmakers und im eignen Hause zu tanzen, auf dem Burgfelde und den Travenwiesen Schlittschuh zu laufen und die Huldigungen der jungen Herren entgegenzunehmen … Mitte Oktober hatte sie Gelegenheit, der Verlobungsgesellschaft beizuwohnen, die man bei Möllendorpfs zu Ehren des ältesten Sohnes und Julchen Hagenströms veranstaltete. »Tom!« sagte sie. »Ich gehe nicht hin. Es ist empörend!« Aber sie ging dennoch hin und unterhielt sich aufs beste.
Im übrigen hatte sie sich mit den Federstrichen, die sie der Familiengeschichte hinzugefügt, die Erlaubnis erworben, mit der Konsulin oder allein in allen Läden der Stadt Kommissionen größeren Stiles zu machen und für ihre Aussteuer, eine vornehme Aussteuer, Sorge zu tragen. Tagelang saßen im Frühstückszimmer am Fenster zwei Nähterinnen, welche säumten, Monogramme stickten und eine Menge Landbrot mit grünem Käse aßen …
»Ist das Leinenzeug von Lentföhr gekommen, Mama?«
»Nein, mein Kind, aber hier sind zwei Dutzend Teeservietten.«
»Schön. – Und er hatte versprochen, es bis heute nachmittag zu schicken. Mein Gott, die Laken müssen gesäumt werden!«
»Mamsell Bitterlich fragt nach den Spitzen für die Kissenbühren, Ida.«
»Im Leinenschrank auf der Diele rechts, Tonychen, mein Kindchen.«
»Line – –!«
»Könntest auch gern mal selbst springen, mein Herzchen …«
»O Gott, wenn ich darum heirate, um selber die Treppen zu laufen …«
»Hast du an die Trauungstoilette gedacht, Tony?«
»Moirée antique, Mama!… Ich lasse mich nicht trauen ohne moirée antique!«
So verging der Oktober, der November. Zur Weihnachtszeit erschien Herr Grünlich, um den heiligen Abend im Kreise der Buddenbrookschen Familie