Der Großherzog wandte sich im Fond und blickte stumm in Herrn von Knobelsdorffs Augen, an deren äußeren Winkeln die strahlenförmigen Fältchen spielten.
»Sehr unterhaltend!« sagte er dann und setzte sich wieder zurecht.
»Prophezeiungen«, fuhr Herr von Knobelsdorff fort, »pflegen sich in der Weise zu erfüllen, daß Umstände eintreten, die man, einigen guten Willen vorausgesetzt, in ihrem Sinne deuten kann. Und gerade durch die großzügige Fassung jeder rechten Weissagung wird das sehr erleichtert. ›Mit einer Hand‹ – das ist guter Orakelstil. Die Wirklichkeit bringt einen mäßigen Fall von Atrophie. Aber damit, daß sie das tut, ist viel geschehen, denn wer hindert mich, wer hindert das Volk, die Andeutung für das Ganze zu nehmen und den bedingenden Teil der Weissagung für erfüllt zu erklären? Das Volk wird es tun, und zwar spätestens dann, wenn auch das Weitere, die eigentliche Verheißung, sich irgend bewahrheiten sollte, es wird reimen und deuten, wie es das immer getan hat, um erfüllt zu sehen, was geschrieben steht. Ich sehe nicht klar – der Prinz ist zweitgeboren, er wird nicht regieren, die Meinung des Schicksals ist dunkel. Aber der einhändige Prinz ist da – und so möge er uns denn geben, soviel er vermag.«
Der Großherzog schwieg, im Innern durchschauert von dynastischen Träumereien.
»Nun, Knobelsdorff, ich will Ihnen nicht böse sein. Sie wollen mich trösten, und Sie machen Ihre Sache nicht übel. Aber man nimmt uns in Anspruch …«
Die Luft schwang von entferntem, vielstimmigem Hochgeschrei. Grimmburger Publikum staute sich schwärzlich an der Station hinter dem Kordon. Amtliche Personen standen in Erwartung der Equipagen einzeln davor. Man bemerkte den Bürgermeister, wie er den Zylinder lüftete, sich mit dem bedruckten Schnupftuch die Stirn trocknete und einen Zettel vor die Augen führte, dessen Inhalt er memorierte. Johann Albrecht nahm die Miene an, mit der er die schlichte Ansprache entgegennehmen und kurz und gnädig beantworten würde: »Mein lieber Herr Bürgermeister …« Das Städtchen war beflaggt; seine Glocken läuteten.
Alle Glocken der Hauptstadt läuteten. Und abends war Freudenbeleuchtung dort, ohne besondere Aufforderung von seiten des Magistrats, aus freien Stücken – große Illumination in allen Bezirken der Stadt.
Das Land
Das Land maß achttausend Quadratkilometer und zählte eine Million Einwohner.
Ein schönes, stilles, unhastiges Land. Die Wipfel seiner Wälder rauschten verträumt; seine Äcker dehnten und breiteten sich, treu bestellt; sein Gewerbewesen war unentwickelt bis zur Dürftigkeit.
Es besaß Ziegeleien, es besaß ein wenig Salz- und Silberbergbau – das war fast alles. Man konnte allenfalls noch von einer Fremdenindustrie reden, aber sie schwunghaft zu nennen, wäre kühn gewesen. Die alkalischen Heilquellen, die in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt dem Boden entsprangen und den Mittelpunkt freundlicher Badeanlagen bildeten, machten die Residenz zum Kurort. Aber während das Bad um den Ausgang des Mittelalters von weither besucht gewesen war, hatte sich später sein Ruf verloren, war von den Namen anderer übertönt und in Vergessenheit gebracht worden. Die gehaltvollste seiner Quellen, Ditlindenquelle genannt, ungewöhnlich reich an Lithiumsalzen, hatte man erst kürzlich, unter der Regierung Johann Albrechts III., erschürft. Und da es an einem nachdrücklichen und hinlänglich marktschreierischen Betriebe fehlte, war es noch nicht gelungen, ihr Wasser in der Welt zu Ehren zu bringen. Man versandte hunderttausend Flaschen davon im Jahr – eher weniger als mehr. Und nicht viele Fremde reisten herbei, um es an Ort und Stelle zu trinken …
Alljährlich war im Landtage von »wenig« günstigen finanziellen Ergebnissen der Verkehrsanstalten die Rede, womit ein durchaus und vollständig ungünstiges Ergebnis bezeichnet und festgestellt werden sollte, daß die Lokalbahnen sich nicht rentierten und die Eisenbahnen nichts abwarfen – betrübende, aber unabänderliche und eingewurzelte Tatsachen, die der Verkehrsminister in lichtvollen, aber immer wiederkehrenden Ausführungen mit den friedlichen kommerziellen und gewerblichen Verhältnissen des Landes sowie mit der Unzulänglichkeit der heimischen Kohlenlager erklärte. Krittler fügten dem etwas von mangelhaft organisierter Verwaltung der staatlichen Verkehrsanstalten hinzu. Aber Widerspruchsgeist und Verneinung waren nicht stark im Landtage; eine schwerfällige und treuherzige Loyalität war unter den Volksvertretern die vorherrschende Stimmung.
Die Eisenbahnrente stand also unter den Staatseinkünften privatwirtschaftlicher Natur keineswegs an erster Stelle; an erster Stelle stand in diesem Wald- und Ackerlande seit alters die Forstrente. Daß auch sie gesunken, in einem erschreckenden Maße zurückgegangen war, das zu rechtfertigen hatte größere Schwierigkeiten, wiewohl nur zu ausreichende Gründe dafür vorhanden waren.
Das Volk liebte seinen Wald. Es war ein blonder und gedrungener Typ mit blauen, grübelnden Augen und breiten, ein wenig zu hoch sitzenden Backenknochen, ein Menschenschlag, sinnig und bieder, gesund und rückständig. Es hing an dem Wald seines Landes mit den Kräften seines Gemütes, er lebte in seinen Liedern, er war den Künstlern, die es hervorbrachte, Ursprung und Heimat ihrer Eingebungen, und nicht nur im Hinblick auf Gaben des Geistes und der Seele, die er spendete, war er füglich der Gegenstand volkstümlicher Dankbarkeit. Die Armen lasen ihr Brennholz im Walde, er schenkte es ihnen, sie hatten es frei. Sie gingen gebückt, sie sammelten allerlei Beeren und Pilze zwischen seinen Stämmen und hatten ein wenig Verdienst davon. Das war nicht alles. Das Volk sah ein, daß sein Wald auf die Witterungsbeschaffenheit und gesundheitlichen Verhältnisse des Landes vom entscheidendsten günstigen Einfluß war; es wußte wohl, daß ohne den prächtigen Wald in der Umgebung der Residenz der Quellengarten dort draußen sich nie mit zahlenden Fremden füllen würde; und kurz, dies nicht sehr betriebsame und fortgeschrittene Volk hätte begreifen müssen, daß der Wald den wichtigsten Vorzug, den auf jede Art ergiebigsten Stammbesitz des Landes bedeutete.
Dennoch hatte man sich am Walde versündigt, gefrevelt daran seit Jahren und Menschenaltern. Der großherzoglichen Staatsforstverwaltung waren die schwersten Vorwürfe nicht zu ersparen. Dieser Behörde gebrach es an der politischen Einsicht, daß der Wald als ein unveräußerliches Gemeingut erhalten und bewahrt werden mußte, wenn er nicht nur den gegenwärtigen, sondern auch den kommenden Geschlechtern Nutzen gewähren sollte, und daß es sich rächen mußte, wenn man ihn, uneingedenk der Zukunft, zugunsten der Gegenwart maßlos und kurzsichtig ausbeutete.
Das war geschehen und geschah noch immer. Erstens hatte man große Flächen des Waldbodens in ihrer Fruchtbarkeit erschöpft, indem man sie beständig in übertriebener und planloser Weise ihres Streudüngers beraubt hatte. Man war darin wiederholt so weit gegangen, daß man da und dort nicht nur die jüngst gefallene Nadel- und Laubdecke, sondern den größten Teil des Abfalls von Jahren teils als Streu, teils als Humus entfernt und der Landwirtschaft überliefert hatte. Es gab viele Forsten, die von aller Fruchterde entblößt waren; es gab solche, die infolge Streurechens zu Krüppelbeständen entartet waren; und das war bei Gemeindewaldungen sowohl wie bei Staatswaldungen zu beobachten.
Wenn man diese Nutzungen vorgenommen hatte, um einem augenblicklichen Notstand der Landwirtschaft abzuhelfen, so waren sie schlecht und recht zu entschuldigen gewesen. Aber obgleich es nicht an Stimmen fehlte, die einen auf die Verwendung von Waldstreu gegründeten Ackerbau für unratsam, ja gefährlich erklärten, so trieb man den Streuhandel auch ohne besonderen Anlaß aus rein fiskalischen Gründen, wie man sagte, aus Gründen also, die bei Lichte betrachtet nur ein Grund und Zweck waren, der nämlich, Geld zu machen. Denn das Geld war's, woran es fehlte. Aber um welches zu schaffen, vergriff man sich unablässig am Kapital, bis der Tag kam, da man mit Schrecken ersah, daß eine ungeahnte Entwertung dieses Kapitals eingetreten sei.
Man war ein Bauernvolk, und in einem verkehrten, künstlichen und unangemessenen Eifer glaubte man zeitgemäß zu sein und rücksichtslosen Geschäftsgeist an den Tag legen zu müssen. Ein Merkmal war die Milchwirtschaft … es ist hier ein Wort darüber zu sagen. Klage ward laut, zumal in den amtsärztlichen Jahresberichten,