So gingen sie und stöberten, wie sie Lust hatten. Ruhe herrschte in den Korridoren, und sie sahen kaum von fern einen Lakaien. Sie stiegen eine Treppe höher und verfolgten den Gang, bis die Gewölbe begannen und sie also in dem Teil des Schlosses waren, der aus den Zeiten Johanns des Gewalttätigen und Heinrichs des Bußfertigen stammte, wie Klaus Heinrich wußte und erklärte. Sie kamen in den Saal mit den Pfeilern, und Klaus Heinrich pfiff dort mehrere Töne schnell nacheinander, weil die ersten noch hallten, wenn der letzte kam, und so ein heller Akkord unter dem Kreuzbogen schwebte. Sie kletterten tastend und manchmal auf Händen und Füßen die steinerne Wendeltreppe hinan, die hinter einer der schweren Türen mündete, und kamen in das Zimmer mit der hölzernen Decke, wo sich mehrere seltsame Gegenstände befanden. Es gab dort einige täppisch große, zerbrochene Flinten mit dick verrosteten Schlössern, die wohl zu schlecht fürs Museum gewesen waren, und einen Thronsessel außer Dienst mit zerrissenem roten Sammetpolster, kurzen, weit geschwungenen Löwenbeinen und schwebenden Kinderchen oberhalb der Rückenlehne, die eine Krone trugen. Dann aber war da ein arg verbogenes und verstaubtes, käfigartiges und gräßlich anmutendes Ding, das sie lange und sehr beschäftigte. Trog sie nicht alles, so war es eine Rattenfalle, denn man erkannte die eiserne Spitze, woran der Speck zu befestigen war, und furchtbar zu denken, wie hinter dem großen und widrig bissigen Tier die Klapptür niedergefallen war … Ja, das nahm Zeit in Anspruch, und als sie sich von der Falle aufrichteten, waren ihre Gesichter erhitzt, und ihre Kleider starrten von Rost und Staub. Klaus Heinrich klopfte sie beide ab, aber das machte nicht vieles gut, denn seine Hände waren ebenfalls grau. Und plötzlich sahen sie, daß die Dämmerung vorgeschritten war. Sie mußten rasch umkehren, Ditlinde bestand ängstlich darauf; es war zu spät geworden, noch weiter vorzudringen.
»Das ist unendlich schade«, sagte Klaus Heinrich. »Wer weiß, was wir noch entdeckt hätten und wann wir wieder Gelegenheit zum Stöbern bekommen, Ditlinde!« Aber er folgte der Schwester doch, und sie sputeten sich, die Wendeltreppe wieder zurückzulegen, durchquerten den Pfeilersaal und traten hinaus in den Bogengang, um eilig und Hand in Hand den Heimweg aufzunehmen.
So wanderten sie eine Strecke; aber Klaus Heinrich schüttelte den Kopf, denn ihm schien, als sei dies der Weg nicht, den sie gekommen waren. Sie wanderten weiter; aber mehrere Anzeichen bewiesen, daß sie die Richtung verfehlt hatten. Diese steinerne Bank mit den Greifenköpfen war hier vorhin nicht gestanden. Dies spitze Fenster ging auf den westlichen, tiefer gelegenen Stadtteil statt auf den inneren Hof mit dem Rosenstock. Sie gingen irr, es half nichts, das fortzuleugnen; sie hatten vielleicht den Saal mit den Pfeilern durch einen falschen Ausgang verlassen und hatten sich jedenfalls gründlich verlaufen.
Sie gingen ein Stückchen zurück, aber ihre Unruhe litt den Rückschritt nicht lange, und so machten sie wiederum kehrt und zogen es vor, bei dem einmal eingeschlagenen Weg aufs Geratewohl zu beharren. Sie gingen in dumpfer, eingeschlossener Luft, und große, ungestört ausgearbeitete Spinngewebe breiteten sich in den Winkeln aus; sie gingen in Sorge, und Ditlinde zumal war reuevoll und dem Weinen nah. Man werde ihr Ausbleiben bemerken, sie traurig ansehen, vielleicht gar dem Großherzog Meldung machen; sie würden niemals den Weg finden, vergessen werden und Hungers sterben. Und wo eine Rattenfalle sei, Klaus Heinrich, da seien auch Ratten … Klaus Heinrich tröstete sie. Es gelte einzig, die Stelle zu finden, wo an der Wand die Harnische und gekreuzten Fahnen hingen; von diesem Punkte an sei er der Richtung sicher. Und plötzlich – sie hatten eben ein Knie des Wandelganges zurückgelassen – plötzlich geschah etwas. Sie schraken zusammen.
Was sie hörten, war mehr, als der Widerhall ihrer eigenen Schritte; es waren andere, fremde, schwerer als ihre, sie kamen ihnen bald rasch, bald zögernd entgegen und waren von einem Schnaufen und Brummen begleitet, das ihnen das Blut erstarren ließ. Ditlind machte Miene, davonzulaufen vor Schrecken; aber Klaus Heinrich gab ihre Hand nicht frei, und sie standen mit weiten Augen und ließen kommen, was kam.
Es war ein Mann, der im Halbdunkel sichtbar wurde, und ruhig betrachtet, war seine Erscheinung nicht grauenerregend. Er war gedrungen von Körperbau und gekleidet wie ein Veteran im Festzuge. Er trug einen Gehrock von altfränkischem Schnitt, einen wollenen Schal um den Hals und eine Medaille auf der Brust. Er hielt in der einen Hand einen geschweiften Zylinderhut und in der anderen die beinerne Krücke seines knotig gerollten Regenschirms, den er im Gehen taktmäßig auf die Fliesen stieß. Sein spärlich graues Haar war von dem einen Ohr aufwärts in verklebten Strähnen über seinen Schädel gestrichen. Er hatte bogenförmige, schwarze Augenbrauen und einen gelblich-weißen Bart, der ihm wuchs wie dem Großherzog, schwere Oberlider und blaue, wässrige Augen mit Säcken aus welker Haut darunter; er hatte die landesüblichen Wangenknochen, und die Falten seines geröteten Gesichtes waren wie Risse. Ganz nahe herangekommen, schien er die Geschwister zu erkennen, denn er stellte sich gegen die Außenwand des Ganges, machte gleichsam Front und fing an, eine Anzahl Verbeugungen auszuführen, dergestalt, daß er seinen ganzen Körper von den Fußballen an mehrmals kurz und ruckhaft nach vorn fallen ließ, wobei er seinem Mund einen biederen Ausdruck gab und seinen Zylinderhut, die Öffnung nach oben, vor sich hielt. Klaus Heinrich gedachte mit einer Kopfneigung an ihm vorüberzugehen, aber betroffen blieb er dennoch stehen, denn der Veteran begann zu sprechen.
»Um Vergebung!« stieß er tief und plötzlich hervor und fuhr dann gemächlicher fort: »Suche ausdrücklich um Vergebung nach bei den jungen Herrschaften! Aber würden die jungen Herrschaften es wohl für ungut nehmen, wenn ich ihnen die Bitte unterbreitete, mir gefälligst den nächsten Weg nach dem nächsten Ausgang bekanntzugeben? Es braucht nicht gerade das Albrechtstor zu sein – gar nicht mal nötig, daß es das Albrechtstor ist. Aber irgendein Ausgang aus dem Schloß, wenn ich so frei sein darf, das Ersuchen an die jungen Herrschaften zu richten …«
Klaus Heinrich hatte seine linke Hand in die Hüfte gestemmt, weit hinten, so daß sie fast schon im Rücken saß, und sah zu Boden. Man hatte einfach das Wort an ihn gerichtet, hatte ihn geradeswegs und in unbehilflicher Form zur Rede gestellt; er dachte an seinen Vater und zog die Brauen zusammen. Er arbeitete hastig an der Frage, wie er sich in dieser fehlerhaften und unordentlichen Lage zu verhalten habe. Albrecht hätte seinen kleinen Mund gemacht, hätte mit seiner kurzen, gerundeten Unterlippe ein wenig an der oberen gesogen und wäre schweigend weitergegangen – soviel war sicher. Aber warum stöberte man, wenn man an dem ersten ernsthaften Abenteuer steif und gekränkt vorübergehen wollte? Und der Mann war rechtschaffen und führte sicher nichts Böses im Schilde, das sah Klaus Heinrich, als er sich zwang, die Augen aufzuschlagen. Er sagte einfach: »Gehen Sie mit uns, das ist das beste. Ich will Ihnen gerne zeigen, wo Sie abbiegen müssen, damit Sie zu einem Ausgang kommen.« Und sie gingen.
»Danke!« sagte der Mann. »Danke aufrichtig für alle Freundlichkeit! Hätte wahrhaftigen Gott nicht gedacht, daß ich eines Tages noch mal mit den jungen Herrschaften im Alten Schloß herumspazieren würde. Aber so geht es, und nach all meinem Ärger … denn ich hab' mich geärgert, mächtig geärgert, das bleibt wahr und bestehen … nach all meinem Ärger hab' ich nun doch noch diese Ehre und dieses Vergnügen.«
Klaus Heinrich wünschte sehr, zu fragen, was der Grund von soviel Ärger gewesen sei; aber der Veteran fuhr schon fort (und stampfte taktmäßig dabei seinen Regenschirm auf die Fliesen): »Und ich hab' die jungen Herrschaften auch gleich erkannt, trotzdem es ein bißchen dunkel ist hier in den Gängen, denn ich hab' sie doch manches liebe Mal in der Kalesche gesehn und mich immer gefreut, denn ich hab' selbst so'n Paar Würmer zu Haus, will sagen, meine sind Würmer, meine … und der Junge heißt auch Klaus Heinrich.«
»Gerade wie ich?« sagte Klaus Heinrich aus unmittelbarem Vergnügen … »Das ist ein hübscher Zufall!«
»Nö, Zufall? Nach Ihnen!« sagte der Mann. »Das ist denn doch wohl kein Zufall nicht, wo er doch ausgesprochen nach Ihnen so heißt, denn er ist ein paar Monat jünger als Sie, und da gibt es viele in Stadt und Land, die auch so heißen, alle nach Ihnen. Nö, Zufall kann man doch das wohl nicht nennen …«
Klaus Heinrich verbarg seine Hand und schwieg.
»Ja, gleich erkannt«, sagte der Mann. »Und hab' mir gedacht: Gottlob, dacht' ich, und das nenn' ich Glück im Unglück, und die werden dir aus der Falle helfen, worein du