Schwarz Gelb - der Tag, die Stadt, das Fieber. Markus Veith. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Veith
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783942672740
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Morgen würde er Madame Tussaud bei seiner Tante abgeben. Sie war die Einzige aus seiner Familie, die noch mit ihm sprach. Auf dem Weg konnte er auch noch die Videos in der 24-Std.-Videothek abgeben.

      „Stadt der Engel“, bestimmt zwanzigmal hatte er ihn sich schon angeschaut und „Ghost Rider“, das war ein Motorrad-Stuntman, der seine Seele verkauft und in der Gestalt eines feurigen Dämons durch die Nacht jagt. Ein cooler Film. Und auf Nicholas Cage fuhr er ab. Er hatte Ähnlichkeit mit Marcus. Seine Seele würde er jetzt auch verkaufen, wenn er wüsste, wie er sich rächen könnte. Aber ihm würde schon etwas einfallen.

      03:00 – 04:00

      Heinrich macht sich Gedanken

      Achim Albrecht

      Es ist nichts Tolles daran, wenn man aus Herne kommt. Es ist auch nichts Tolles daran, wenn man Heinrich heißt. Toll wird es erst dann, wenn man um 03:02 Uhr in einer fahlgrün gekachelten Toilettenzelle sitzt und sich dem Diktat seiner Prostata ergibt, die stillvergnügt vor sich hin wuchert und den Urin in winzige Tropfen portioniert, während der Harndrang eine volle Blase signalisiert. Voll um 23:11 Uhr, voll um 00:28 Uhr, voll um 01:56 Uhr, voll rund um die Uhr.

      In der Umgebung von Heinrich starben die altbekannten Gesichter. Rentner wie er. Zigarrenraucher, feiste Quetschbäuche, blasse Beine mit arthritischen Gelenken, Frauen in Gesundheitswäsche, die noch wussten, wie man echtes Essen aus echten Zutaten zubereitete, Ärzte, die noch den Krieg mitgemacht hatten und wussten, dass es vier oder fünf Basiskrankheiten gab, die mit einem halben Dutzend Therapien und einer Handvoll Tabletten zu bekämpfen waren. Nicht solche schräg geföhnten Typen, wie sein neuer Hausarzt, der mit einem Zahnpastalächeln einem verdienten Rentner auf die Nerven fiel und neumodischen Schnickschnack einführen wollte. Außerdem war er aus Süddeutschland, knapp oberhalb Siziliens, wenn man Heinrich fragte. Die Stimme ein einziger flötender Singsang. Fehlte noch, dass er sich schminkte. „Anamnese“, flötete der Schönling, als Heinrich in seiner schönsten Cordhose zum Rapport erschien. Heinrich traute seinen Ohren nicht. Der Kerl wusste noch nicht einmal, wie man „Ananas“ aussprach und gefrühstückt hatte Heinrich schon um 05:30 Uhr, wie jeden Morgen, und zwar Graubrot mit Teewurst, frischen Zwiebeln und einen Pott Caro-Kaffee, richtig stark mit drei Löffeln Instantpulver. Nichts für süddeutsche Bübchen in gestärkten, weißen Schürzenkleidchen. Mein Gott, wo war man nur hingekommen in dieser Republik, in der alles vor die Hunde ging außer der Fußballbundesliga und auch die war nicht mehr, was sie war. Seit wann musste man beim Arztbesuch exotisches Obst essen?

      ,Er solle gefälligst den Arsch zusammenkneifen und wie ein Mann reden‘, sagte Heinrich zu dem Arzt und tastete nach seiner Schiffermütze, die wie angegossen auf seinem eisengrauen Quadratschädel saß. Der Jungarzt lächelte verständnisvoll. Solche Typen hatten für alles Verständnis. Windelweichgespült, aber innerlich voller Heimtücke. ‚Arsch zusammenkneifen‘. Als hätte Heinrich prophetische Gaben. Von wegen abtasten. Mit dem Finger in den Hintern. Das wollte das Bürschchen. Das könnte ihm so passen. Prostata. Dass Heinrich nicht lachte. Zwei Hände voll Kürbissamen und ein ordentlicher Aquavit und sein Entsorgungssystem wäre wieder auf vollem Strahl. Der alte Siegmund mit seinem fleckigen Stethoskop und seiner spöttisch rauen Art hätte ihn verstanden. Er hatte ihn immer verstanden. Sie waren zwei Kerle aus dem gleichen Schrot und Korn, wie sie heute nicht mehr wuchsen. Drei Sorten Tabletten hatte ihm Siegmund immer verschrieben. Blutdruck, grauer Star und Arthrose. Die drei Heimsuchungen des Alters. Einmal abhören. Einatmen, ausatmen, Zunge raus und in die Augen schauen. Dann fertig. ,Du wirst so alt, wie dein Herz mitmacht. Keinen Tag länger‘. Eine klare Ansage. Ein Händedruck. ,Glück auf‘. Zwei Sätze Fußballlatein mit auf den Weg. So ging Arzt.

      Und jetzt das. Gebleckte Zähne, Kauderwelsch, Ananas auf ausländisch, seitlich auf die Pritsche legen, Hose runter, auch den Feinripp und in ein Gerät starren, das fiepend irgendwelche Linien auf einen Bildschirm schrieb. Bei dem Kugelroller und dem schmierigen Zeug auf dem Bauch hielt Heinrich noch mit zusammengebissenen Zähnen durch.

      Dann kam die Sache mit dem Finger. Ein manikürter Mittelfinger in Plastiklümmeltüte. Und Heinrichs geheiligter Ausgang. Ein bislang unangetastetes Geflecht aus Raute, Haut und Haaren, verwöhnt durch die gelegentliche Kosmetik von zweilagigem Toilettenpapier von Aldi. AUSGANG, kein EINGANG. Das hatte die kleine Schwuchtel von Arzt wohl nie so richtig gelernt. Bestimmt einer aus so einem Mafia-Internat, in dem man rhythmisch klatschte, seinen Namen tanzte und dafür das Abitur nachgeschmissen bekam. Heinrich hatte davon gehört. Er war ja nicht von gestern. Auch er brauchte Dinge, vor denen er sich ekelte. Dazu gehörten Stinkefinger, die dorthin gehen wollten, wo nie eines Menschen Finger zuvor gewesen war und Ananas beim Arzt. Ja, wo war denn überhaupt die Ananas? Nicht, dass Heinrich Appetit auf Obst in Sirup gehabt hätte, aber versprochen war versprochen.

      ‚Entspannen‘ und ,nur kurz abtasten‘ war das Letzte, was Heinrich hörte, bevor er sich von der Liege wälzte, den Hosenbund an sich zog und dem säuselnden Süddeutschen zwischen die Beine trat. ,Geronimo‘ brüllte Heinrich, weil ihm nichts Besseres einfiel und weil er ein Kosmopolit war. Herne, Dortmund, Wanne-Eickel. Alles Kosmopoliten mit sauberer polnischer und italienischer Herkunft. Malocher vielleicht, aber mit Herz und Verstand. Dagegen vor ihm ein sich wie ein Wurm auf dem Boden windender Arztdarsteller aus südlichen Gefilden, der seine geschliffenen Manieren für einen Satz blitzblauer Eier eingetauscht hatte.

      Tja, und jetzt saß man mitten in der Nacht auf der Toilette mit seiner altersgereiften Prostata und wartete unter Pressatmung auf den nächsten Tropfen und das Gefühl der Erleichterung, das keine zwei Stunden anhalten würde. Menschenunwürdig, dachte Heinrich und tastete nach der Zeitung. ,Meisterstück?‘, schrie es ihm entgegen. Darunter der Wetterbericht für das entscheidende Spiel der Schwarz-Gelben. Es sollte warm werden, eigentlich zu heiß für Ende Mai. Das Wetter war früher auch zuverlässiger. Wie alles. Heinrich stöhnte und schloss die Augen. Wo hatte er seine verdammten Zigarren gelassen? Ein ordentlicher Zug an einem Stumpen und wenigstens sein Stuhlgang würde funktionieren.

      ,Großes Polizeiaufgebot‘ las Heinrich. Polizei, meine Fresse, dachte er. Nach seinen Erfahrungen konnte man sich das schenken. Keine Zucht, keine Ordnung. So war das. Nach der Episode beim Arzt war Heinrich pflichtgemäß zur Polizei in der Nähe der Steinwache gegangen. Er war Deutscher. Er war 72 und ein aufrechter Bürger und er hatte Arthrose in den Knien. Irgendjemandem musste er doch Meldung über den unappetitlichen Vorfall machen. Heinrich schämte sich, aber sexuelle Belästigung war sexuelle Belästigung. Er würde dem Burschen das Handwerk legen. Heinrich hatte den Steilpass zwar punktgenau verwandelt und den Fummelarzt in ein Häufchen Elend verwandelt, aber danach war sein rechter Meniskus vollkommen defekt. Sogar seinen Spazierstock musste Heinrich holen. Auf der Wache ließen sie ihn in einem kahlen Räumchen sitzen, obwohl Heinrich wortstark einen sofortigen Einsatz verlangte, am besten mit einem Sonderkommando, solange der Sittenstrolch noch seine Spermien nachzählte.

      Heinrich schluckte noch, dass kleine, blonde Mädchen Polizistin werden dürfen, er schluckte auch, dass er seine Geschichte auf alle unbedeutenden Kleinigkeiten wie Adresse, Uhrzeiten und den Grund des Arztbesuchs ausdehnen musste, während ein offensichtlicher Sexualverbrecher in der Maske eines Allgemeinmediziners Dortmund unsicher machte. Heinrich war kooperationsbereit bis zur Selbstaufgabe und mit der Geduld und Weisheit des Alters gesegnet. Was ihn aber in Rage brachte, war dieses blondhaarige Geschöpf in Polizeiuniform, die ihn nach endlosem Warten im Tonfall einer nachsichtigen Oberlehrerin darüber informierte, man habe mit der Arztpraxis telefoniert und der Arzt werde keine Strafanzeige stellen. Es handele sich offenbar um ein Missverständnis.

      Missverständnis. Heinrich vergaß einzuatmen. Er vergaß die stechenden Schmerzen in seinem Knie. Das dümmliche Grinsen der uniformierten Göre hing über ihm wie ein geschminkter Lampion. Heinrich riss den Spazierstock nach oben.

      Sein Einsatzkommando hatte er bekommen und Handfesseln dazu. Irgendein Clown von den Ruhrnachrichten war, Gott weiß woher, wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte von dem rabiaten Rentner Fotos gemacht. Der Rest würde in den Lokalnachrichten auftauchen. Von wegen rabiater Rentner, von wegen Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Entrechtet, geknechtet, mit schweren Knieschäden und noch immer ohne Ananas. So verhielt sich die Sache. Heinrich würde das klären. Gründlich