Bei solch einer Begegnung erzählte er Julia einmal von seiner Mutter. Keinem Anderen hatte er mehr über sie erzählt, als dass sie gestorben sei. Julia gestand er, dass er versuchte nicht an sie zu denken. Meistens ging das ganz gut, in letzter Zeit. Aber als sie vor fünf Jahren so qualvoll vom Krebs gefressen worden war, hatte er nicht gewusst, wohin mit seinem Schmerz. Er hatte Wut daraus gemacht, weil er diese besser kannte als den Schmerz. Manchmal hatte er durchgedreht, getobt, sein Zimmer verwüstet und den Vater angeschrien: „Warum ist sie einfach so abgehauen, einfach so weg!“ Rolf hat ihn dann in die Arme genommen, beruhigt und selbst gezittert vor Trauer. In dieser Zeit hatte er manchmal nachts ins Bett gemacht. Dann war er zusammen mit seinem Vater einmal in der Woche zur Therapie gegangen. Frau Dr. Rose hatte ihnen Hausaufgaben aufgegeben, beiden, Finn und Rolf. Sie sollten alles aufschreiben, was sie wussten, über das Leben mit seiner Mutter und wie sie es gefunden und was sie gefühlt hatten. Oft hatte das sehr weh getan, doch letztlich geholfen. Das hatte sie zusammengeschmiedet, Vater und Sohn.
Als Finn all das Julia an einem dieser glücklichen Nachmittage erzählt hatte, hatte sie weinen müssen. „Das tut mir so leid, oh mein Gott“, hatte sie geschluchzt und ihn an schlechte amerikanische Filme erinnert. „Da hast du schon richtigen Schmerz erlebt und ich kenne das nur aus dem Fernsehen.“ Finn hatte weggeschaut, so hatte er sich für sie geschämt, für seine kleine dumme Freundin Julia. Nach einer Weile hatte sie ihn in den Arm genommen und alles war wieder gut gewesen, fast.
Das sind absolut die falschen Gedanken, wenn man einschlafen will, um morgen fit wie ein Äffchen zu sein, dachte er und musste grinsen.
Er kramte das Pornoheft unter dem Bett hervor und schaltete die Leselampe an. Am besten gefiel ihm „Melody“, sie war so ernst und so schön, diese tiefgründigen Augen und diese glanzroten Lippen, halb geöffnet, mit dem Hauch eines Lächelns. Für ihren Körper brauchte sie einen Waffenschein. Das, was sie da mit diesem Chromstab zwischen ihren gespreizten Beinen tat, passte gar nicht zu ihrer geheimnisvollen Aura, machte Finn aber an, manchmal, heute eher nicht. Dies hier und seine Sehnsucht nach Julia gehörten nicht zusammen, waren getrennte Welten. Schnell packte er das Heft wieder weg und löschte das Licht. Er spürte die Scham auf seinen Wangen, drehte sich weg in das Kissen.
So flossen seine Gedanken und Bilder durch ihn hindurch, nahmen ihn mit in den Schlaf und spülten ihn wieder an den Rand des unbewussten Stromes, nur um ihn wieder in einen neuen Traumwirbel zu spülen:
Finn steht auf der Torlinie und macht sich für den Elfmeter bereit. Die Sturmspitze der Blau-Weißen legt sich den Ball zurecht. Um ihn herum das riesige Oval der Tribünen des Stadions bis zum Horizont, ausverkauft. Achtzigtausend Augenpaare sind auf ihn gerichtet. Es ist so still, als habe jemand den Ton abgedreht. Schräg hinter dem Schützen steht Schneider, Marcus Schneider, sein Idol. Er lächelt ihm zu und zeigt den Daumen nach oben. Der Stürmer der Blau-Weißen läuft an, holt aus zum Schuss, ein kurzes Zögern, Finn wartet, sieht ihm in die Augen. Dann der Schuss, das Leder, im Bogen geschlenzt, will ins rechte Eck, Finns Beine ein Katapult, schleudert ihn im riesigen Satz, im Katzensprung, im Flug mit gedehntem Körper und gestreckten Armen zum Ball. Und mit den Fingerspitzen der linken Hand streift er die Kugel und lenkt sie hauchzart über das Aluminium. Ein Orkan bricht los. Das Stadion brennt. Die Schwarz-Gelben stürzen auf ihn zu, als erster Marcus Schneider. Im wilden Knäuel der Begeisterung fallen sie übereinander und über ihn her, den Helden von Schwarz-Gelb Dortmund. Schneider drückt ihn fest an sich, küsst ihn auf den Hals, auf die Wange und auf den Mund. Küsst ihn feucht und genüsslich, küsst ihn wie sonst nur Julia. Finn wehrt sich drückt ihn weg, will nur weg, schreit: „Hau ab, du Sau!“ Schneider schaut ihn an, ruft: „Aber Finn, Finn …“
„… Finn, Finn, wach auf!“
Als er die Augen öffnete, saß sein Vater an seinem Bett und sah ihn fragend an. „Du hast geschrien. War es wieder so ein Albtraum? Hast du wieder von Mutter geträumt?“ Rolf sah ihn besorgt an.
„Albtraum ja, aber nicht von Mutter.
01:00 – 02:00
Eingesperrt
Silvana Richter
Madame Tussaud lag auf dem Bett und lauschte, den Blick starr auf die Tür geheftet − festgetackert sozusagen. Sie wagte kaum zu blinzeln, aus Angst, den Moment zu verpassen, in dem sich die Klinke nach unten bewegt. „Die hypnotisiert wieder die Tür“, würde diese Frau sagen, bei der Dominik sie manchmal ablieferte und die er Tante Tilly nannte. Eine grässliche Alte, die immer wollte, dass sie sich zu ihr auf die Couch legte, sobald Dominik ihr einen Kuss auf die Schnauze gab und zur Tür hinaus verschwand. Widerwillig, aber ohne Knurren, ertrug Madame Tussaud dann die Umarmungen, die ihr fast die Luft abschnürten, oder das Gewuschel durch ihre Locken und das rhythmische Patschen auf den Kopf, als wäre der ein Tennisball. Wenn sie mal nach draußen gingen, dann immer nur einmal die Straße rauf und runter. Und sobald sie etwas Interessantes entdeckte und stehen blieb, zerrte Tante Tilly sie augenblicklich weiter. Sie hasste diese Tillytage. Lediglich die Schokodinger, die ihr die Frau vorsetzte, machten das ganze erträglich. Und Jacqueline natürlich, die nebenan wohnte und rüberkam, wenn sie durfte. Dann war schon mal ein längerer Spaziergang drin oder sie vergnügten sich mit einem Spiel. Mit ihr klappte auch die Verständigung besser als mit dieser Tante, die sich so komisch bewegte und nicht so recht zu durchschauen war. Wenn Dominik sie dorthin brachte, fragte sie sich, warum er sie so bestrafte und die Angst, dass er nicht mehr zurückkam, überfiel sie jedes Mal aufs Neue. Dann quälte sie die Erinnerung an die Tage, an denen sie sehnsüchtig jedem Zweibeiner ihre Schnauze durch die Gitterstäbe entgegenschoben hatte. Der, der jeden Tag das Futter brachte und mit einem Wasserstrahl den Boden säuberte, kümmerte sich nicht weiter um sie oder die anderen. Aber es kamen auch solche, die nur einmal, dann aber langsam, von Käfig zu Käfigen schritten. Die musste man beeindrucken. Allerdings war das Wie unklar und jeder um sie herum versuchte es auf eine andere Art. Was für ein Getöse! Was für ein Rennen, Springen und Hecheln. Was für eine Enttäuschung, wenn man wieder nicht zu denen gehörte, die rausgeholt wurden. Nein, nie wieder wollte sie dahin zurück!
Madame Tussaud atmete einen Seufzer nach dem anderen aus. Schließlich senkte sie den Kopf aufs Kissen, beobachtete aber weiter die Tür. Manchmal ließ sie sich öffnen, wenn man dagegen drückte … ob sie es erneut probieren sollte? Oder sollte sie Krach machen? Damit hatte sie schon öfter Erfolg gehabt. Tante Tilly drohte dann zwar mit der zusammengerollten Zeitung und Dominik schimpfte. Aber immer noch besser als allein und eingesperrt zu sein. Sie startete einen halbherzigen Versuch. Das Wimmern versickerte nutzlos im Kissen − die Tür rührte sich nicht. Madame Tussaud musste all ihre Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht vor Wut das Bettzeug zu zerfetzen, zumal plötzlich wieder diese schaurigen Geräusche aus dem Nebenraum kamen. Irgendetwas stimmte nicht. Und diese Hitze war auch nicht normal! Machte einen völlig schwindelig. Wie konnte Dominik sie hier einsperren? Sie würde verdursten, wenn er sich nicht bald um sie kümmerte. Dabei hatte der Tag so schön angefangen. Direkt nach dem Frühstück war er mit ihr im Auto losgefahren. Sie hatte vorne sitzen dürfen, wo die Fenster heruntergekurbelt waren, sodass sie den Kopf in den Fahrtwind recken konnte. Das liebte sie! Noch mehr als das allerdings liebte sie, was sie dann sah, als sie anhielten. Wasser, viel Wasser … ein See! Sie hatte vor Aufregung gar nicht stillhalten können, war aus dem Auto gesprungen, kaum dass er die Tür aufgemacht hatte. Wusch −hinein, dass es spritzte und die Menschen in der Nähe quiekten. Yippie-yi-yo-ki-yay … den Bauch kühlen, Stöckchen fischen, nach Steinen tauchen, planschen, toben, Tropfen aus dem Fell schütteln, sich im Ufersand