Sonnenlicht fiel durch Löcher im Tempeldach, und in seinem Schein war in der Mitte des Raums ein quaderförmiger Altar zu sehen. Nhorich schritt darauf zu, und Gorian blieb ihm auf den Fersen. Als der ehemalige Schwertmeister den Altar erreicht hatte und davor halt machte, sprach er erneut eine Formel, und dabei hielt er die Hände über den etwa hüfthohen Steinquader, den für einen kurzen Augenblick ein bläuliches Leuchten umflorte, das aber rasch wieder verschwand.
Nhorich senkte seine Hand auf den brüchigen und verwitterten Stein, dessen eingemeißelte Symbole von der Zeit inzwischen nahezu völlig geglättet waren. Seine Hand drang ohne Widerstand in den Stein, und Nhorich tauchte auch mit dem anderen Unterarm darin ein, um sodann zwei Schwerter aus dem Altar hervorzuholen.
Ihr Metall wirkte recht dunkel, und ebenso wie Gorians Dolch waren die Schwerter mit magischen Kraftzeichen versehen, die in die Klinge eingraviert waren.
Eines davon reichte er Gorian. „Dies ist Sternenklinge“, sagte er. „Ich werde dir beibringen, wie man mit dieser Waffe kämpft.“
Gorian wog das Schwert in der Hand. Es war erstaunlich leicht. Die magischen Kraftzeichen, die in die Klinge graviert waren, leuchteten kurz auf.
„Kann man mit dieser Waffe den Schergen Morygors entgegen treten?“, fragte Gorian.
„Eher als mit jeder anderen“, erklärte ihm Nhorich. „Du hast eine besondere Bestimmung, mein Sohn. Es heißt, dass der Schlag eines Schmetterlings einen Sturm verursachen kann und ein Tropfen genügt, um ein Meer zum Überlaufen zu bringen und eine Flut auszulösen.“
„Die Axiome des Ordens“, murmelte Gorian.
„Du hast sie gelesen, mein Sohn – und auch wenn ich mich mit dem Orden überworfen habe, so zweifele ich nicht an der Weisheit des Ersten Meisters, der den Orden der Alten Kraft gründete und viele dieser Lehrsätze einst niederschrieb.“ Er deutete mit der freien Hand auf Gorian. „Ich glaube, dass du der Tropfen sein kannst, der das Meer zum Überlaufen bringt. Morygor hat deinetwegen den Mörder-Gargoyle ausgeschickt. Dafür kann es nur einen einzigen Grund geben: Er hat erkannt, dass deine Schicksalslinie die seine kreuzen wird, und dies in einer Weise, die ihm gefährlich werden kann.“
„Aber wie kann das sein?“, fragte Gorian verständnislos. „Ich bin noch nicht einmal ein ausgebildeter Meister des Ordens. Ich bin ja noch nicht mal alt genug, um überhaupt als Ordensschüler aufgenommen zu werden. Wie könnte ich dem Herrn der Frostfeste da gefährlich werden?“
„Du musst zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tun – so kannst du eine große, überragende Wirkung erzielen. Dieser Lehrsatz, ebenfalls von den Gründern des Ordens niedergelegt, ist keine hohle Phrase - es geschieht jeden Tag! Schlage an der richtigen Stelle auf einen Stein, und er zerbricht. Lade einem Riesen, der eine schwere Last trägt, die ihn bis zur Grenze seiner Kräfte fordert, noch ein zusätzliches Sandkorn auf, so wird er unter dem Gewicht zusammenbrechen. Irgendwann wird deine Schicksalslinie mit der von Morygor zusammentreffen, und wenn das im entscheidenden Moment geschieht, genügt schon ein geringes Maß an Kraft, um eine große Wirkung zu erzielen.“
„Du meinst, ich könnte Morygor vernichten? Und die Gefahr abwenden, die uns alle bedroht?“
„Das weiß ich nicht, mein Sohn“, gab Nhorich zu. „Ich vermag nicht so klar und deutlich wie Morygor zu erkennen, wie die Schicksalslinien in die Zukunft verlaufen - und schon gar nicht all ihre mannigfachen Verzweigungen und Verknüpfungen. Dass Morygor aber die magischen Mittel dazu hat und davon auch reichlich Gebrauch macht, ist seit langem bekannt. Es ist einer der Gründe, warum er so erfolgreich ist. Sehr geduldig wartet er auf die Momente, in denen er seine Macht am wirkungsvollsten einsetzen kann. Nur so ist zu erklären, dass er mit seinem Zauber selbst den Lauf der Gestirne verändern und den Schattenbringer vor die Sonne schieben kann. Und auch der Zeitpunkt, da er dir den Gargoyle sandte, war keineswegs zufällig gewählt, sondern genau vorausberechnet.“
„Ist es nicht möglich, ebenso weit in die Zukunft zu sehen wie Morygor?“, fragte Gorian. „Kann man nicht das gleiche Wissen erlangen, über das er offenbar verfügt?“ Die Worte seines Vaters hatten ihn sehr nachdenklich gemacht.
„Wenn man sehr viel Magie einsetzt, kann man dieses Wissen vielleicht erlangen. Vielleicht aber muss man dafür auch erst ein untotes Monstrum wie Morygor werden.“
„Hätte jemand das gleiche Wissen wie Morygor, wäre er doch in der Lage, ihm die Stirn zu bieten, oder?“
„Ja, aber womöglich würde sich derjenige unter dem Einfluss dieses Wissens verändern. Er könnte der Macht verfallen, die ihm die Erkenntnis über das zukünftige Netz der Schicksalslinien schenkt. Die Versuchung, dieses Wissen allein zum eigenen Vorteil zu benutzen, wäre zu groß.“
„Und Morygor ist dieser Versuchung verfallen?“
„Ja, das ist er.“
„Aber auch ein Schwertmeister des Ordens ahnt doch die Angriffe seiner Gegner voraus“, gab Gorian zu bedenken.
„Aber nur einen Lidschlag, bevor der jeweilige Angriff erfolgt. Er weiß – wenn er wirklich gut ist - einen Moment im Voraus, wie der nächste Schlag seines Gegners aussehen wird, ob er von oben, von unten, von der Seite erfolgt. Er weiß, welche Finte sein Gegner anwenden wird und welcher seiner Vorstöße wirklich gefährlich für ihn sein kann.“
„Ist es nicht die gleiche Fähigkeit, die Morygor anwendet, nur dass die der Schwertmeister abgeschwächt ist?“
„Das stimmt.“
„Und was ist mit den Sehern des Ordens? Schaue sie nicht auch in die Zukunft?“
„Sie schätzen Wahrscheinlichkeiten ab und ihr Blick ist längst nicht so detailliert und weitreichend wie der Morygors... Was nicht heißt, dass der Orden dies nicht insgeheim anstreben würde!“ Nhorich hob das Schwert in seiner Hand – den Schattenstich. Die Klinge schimmerte dunkel. „Diese Waffe hier enthält die gleiche Kraft, der sich auch Morygor bedient. Es ist die Kraft der Finsternis, mein Sohn. Und nur die Finsternis kann die Finsternis besiegen. Die alten Meister des Ordens haben das immer gewusst und die Künste des Krieges und der Magie, die innerhalb des Ordens gepflegt werden, in diese Richtung weiterentwickelt.“
Eine eigenartige Kraft schien plötzlich von Sternenklinge auszugehen. Gorian hielt den Schwertgriff zuerst mit der Rechten, dann nahm er ihn in die Linke und wusste noch nicht, was er von dieser Empfindung halten sollte. Die Kraft der Klinge durchflutete ihn in einem kurzen Moment und löste zunächst ein tiefes, verstörendes Unbehagen aus, das sich mit einer wirren Flut von Gedanken vermischte, die ihm im Kopf umherschwirrten, unbeantwortete Fragen, ängstliche Ahnungen. War es wirklich möglich, dass er das Sandkorn war, das den Riesen zu Fall brachte? Dass es eine Kreuzung der Schicksalslinien gab, an der die Linie Morygors auf die seine traf und an welcher der schier übermächtige Herrscher des Frostreichs besiegt werden konnte?
Nhorich schien die Gedanken seines Sohns zumindest zu erahnen, denn er sagte: „Es kann noch ein halbes Leben oder länger dauern, bis jener ausschlaggebende Zeitpunkt, an dem sich eure Schicksalslinien treffen, gekommen ist, Gorian. Erwarte ihn nicht gleich morgen oder in einem Jahr. Nicht einmal in zehn Jahren muss dieser Moment eintreffen, denn Morygors Fähigkeit der Schicksalssicht reicht sehr, sehr weit in die Zukunft. Aber du musst damit rechnen, dass Morygor erneut versuchen wird, dich zu vernichten, bevor dieser entscheidende Zeitpunkt erreicht ist. Er tut nichts ohne Grund, und wenn er den Aufwand, dir einen Gargoyle zu senden, einmal auf sich genommen hat, dann wird er es auch ein zweites Mal tun. Allerdings wird er auf einen weiteren günstigen Moment warten müssen. Der erste ist verstrichen, ohne das Morygor Erfolg hatte, aber es werden weitere kommen.“
„Und wir wissen nicht, wann so ein günstiger Moment