Zu jener Zeit war der Bois de Boulogne noch nicht das, was er heute ist. Er wirkte kleiner, nicht so gepflegt, ärmlicher, geheimnisvoller und ländlicher; dort konnte man träumen.
An den Champs-Élysées, die weniger prunkvoll und nicht so bewohnt waren wie heute, gab es neue Viertel, in denen kleine Häuser mit winzigen, aber sehr lauschigen Gärten noch zu niedrigen Preisen vermietet wurden. Dort konnte man leben und arbeiten.
In einem dieser weißen schmucken Häuschen, inmitten von blühendem Flieder, verborgen hinter einer hohen Weißdornhecke, die von einer grün gestrichenen Gartentüre abgeschlossen wurde, wohnte Thérèse. Es war im Monat Mai. Das Wetter war herrlich. Laurent selbst hätte wohl nur schwerlich erklären können, wie er abends um neun Uhr hinter diese Hecke in der ausgestorbenen und noch nicht fertigen Straße geraten war, wo noch keine Laternen aufgestellt waren und Brennnesseln und Unkraut auf der Böschung wuchsen.
Die Hecke war sehr dicht, und Laurent ging einmal ganz leise rundherum und entdeckte nichts als Blätter, leicht vergoldet von einem Licht, das – wie er vermutete – auf dem kleinen Tisch im Garten stand, an dem er zu rauchen pflegte, wenn er den Abend bei Thérèse verbrachte. Also wurde im Garten geraucht? Oder Tee getrunken, was auch zuweilen vorkam?
Thérèse hatte Laurent angekündigt, sie erwarte eine ganze Familie aus der Provinz, doch er konnte nur das geheimnisvolle Flüstern zweier Stimmen ausmachen, von denen ihm die eine die von Thérèse zu sein schien. Die andere sprach ganz tief: war es die Stimme eines Mannes?
Laurent lauschte und lauschte, dass ihm die Ohren sausten, bis er zuletzt Thérèse die folgenden Worte sagen hörte oder zu hören meinte: »Was bedeutet mir das alles schon? Ich liebe auf der Welt nur noch einen Menschen, und das sind Sie!«
Hals über Kopf stürzte Laurent aus der kleinen ruhigen Seitenstraße auf die belebten Champs-Élysées und sagte zu sich selbst: ›Nun kann ich völlig unbesorgt sein. Sie hat einen Liebhaber! Im Grunde war sie nicht verpflichtet, mir das anzuvertrauen! … Nur hätte sie nicht bei jeder Gelegenheit so reden dürfen, dass sie mich glauben machte, sie gehöre keinem und wolle keinem gehören. Sie ist eine Frau wie alle anderen auch: Lügen geht ihr über alles. Was macht mir das schon aus? Und doch hätte ich es nicht gedacht. Und irgendwie muss sie mir sogar ein bisschen den Kopf verdreht haben, ohne dass ich es mir eingestehen wollte, denn ich habe dort auf der Lauer gestanden und mich höchst schändlich, wenn nicht gar wie ein Eifersüchtiger aufgeführt! Aber eigentlich brauche ich es nicht zu bereuen, denn das bewahrt mich vor einem großen Unglück und einer großen Torheit: nämlich eine Frau zu begehren, die nicht begehrenswerter ist als jede andere auch, ja noch nicht einmal aufrichtig!‹
Laurent hielt eine vorbeifahrende leere Droschke an und begab sich nach Montmorency. Er nahm sich fest vor, eine Woche dort zu bleiben und frühestens in vierzehn Tagen wieder zu Thérèse zu gehen. Er blieb jedoch nur achtundvierzig Stunden auf dem Land und stand am dritten Abend vor Thérèses Türe, genau im gleichen Augenblick wie Herr Richard Palmer.
»Oh!«, meinte der Amerikaner und reichte ihm die Hand. »Ich bin froh, Sie hier zu sehen!«
Laurent musste ihm wohl oder übel auch die Hand geben, doch konnte er es sich nicht verkneifen, Herrn Palmer zu fragen, warum er denn so froh sei, ihn zu treffen.
Der Fremde überhörte den reichlich unverschämten Ton des Malers.
»Ich bin froh, weil ich mag Sie«, erwiderte er mit entwaffnender Herzlichkeit, »und ich mag Sie, weil ich bewundere Sie sehr!«
»Was! Sie hier?«, sagte Thérèse erstaunt zu Laurent. »Heute Abend habe ich nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«
Und der junge Mann meinte aus diesen einfachen Worten einen ungewohnt kühlen Ton herauszuhören.
»Ach!«, antwortete er ihr ganz leise, »Sie hätten sich schnell damit abgefunden, und ich glaube, ich störe hier ein reizendes Tête-à-Tête.«
»Umso grausamer von Ihnen«, erwiderte sie im gleichen scherzhaften Ton, »zumal Sie mir ja ganz offenbar dazu verhelfen wollten.«
»Sie haben sich darauf verlassen, da Sie doch nicht abgesagt haben! Soll ich wieder gehen?«
»Nein, bleiben Sie. Ich nehme es auf mich, Sie zu ertragen.«
Nachdem der Amerikaner Thérèse begrüßt hatte, öffnete er seine Brieftasche und entnahm ihr einen Brief, den er Thérèse überbringen sollte. Mit undurchdringlicher Miene überflog Thérèse das Geschriebene, ohne die geringste Bemerkung zu machen.
»Wenn Sie antworten wollen«, sagte Palmer, »ich habe eine Postgelegenheit nach Havanna.«
»Danke«, antwortete Thérèse und öffnete die Schublade einer kleinen Kommode, neben der sie gerade stand. »Ich werde nicht antworten.«
Aufmerksam verfolgte Laurent alle ihre Bewegungen und sah, wie sie diesen Brief zu vielen anderen legte, von denen einer durch die Form und die Unterschrift ihm sozusagen in die Augen sprang. Es war der Brief, den er zwei Tage zuvor an Thérèse geschrieben hatte. Ich weiß nicht, warum er zutiefst betroffen war, seinen Brief mit dem zusammenliegen zu sehen, den Herr Palmer ihr übergeben hatte.
›Sie legt mich dort in buntem Durcheinander mit ihren ausgedienten Liebhabern ab. Ich habe aber keinen Anspruch auf solche Ehre. Über Liebe habe ich mit ihr nie gesprochen.
Thérèse fing an, über das Porträt von Herrn Palmer zu reden. Laurent ließ sich sehr bitten und beobachtete genau die geringfügigsten Blicke und die leisesten Schwankungen in den Stimmen seiner Gesprächspartner; jeden Augenblick meinte er, bei ihnen eine heimliche Angst zu entdecken, er könne nachgeben; doch ihr Drängen war so aufrichtig, dass er sich beruhigte und sich über seinen Argwohn ärgerte. Wenn Thérèse, eine Frau, die so frei und selbstständig lebte, keinem etwas schuldig zu sein schien und sich auch niemals darum kümmerte, was über sie geredet werden könnte, nun wirklich Beziehungen zu diesem Ausländer hatte, dann brauchte sie wohl nicht den Vorwand eines Porträts, um das Objekt ihrer Liebe oder ihrer Träume oft und lange bei sich zu empfangen?
Sobald sich Laurent beruhigt fühlte, hielt ihn kein Schamgefühl mehr davon ab, seine Neugier offen kundzutun.
»Sie sind also Amerikanerin?«, sagte er zu Thérèse, die hin und wieder Herrn Palmer die Antworten, die er nicht ganz verstand, ins Englische übersetzte.
»Ich?«, antwortete Thérèse, »habe ich Ihnen denn nicht gesagt, dass ich die Ehre habe, eine Landsmännin von Ihnen zu sein?«
»Ja, nur weil Sie so gut Englisch sprechen.«
»Sie können nicht beurteilen, ob ich es gut spreche, da Sie es gar nicht verstehen. Aber ich merke schon, worauf Sie hinauswollen, denn ich weiß, dass Sie neugierig sind. Sie möchten wissen, ob ich Dick Palmer seit gestern oder schon seit Langem kenne. Na schön, fragen Sie ihn doch selbst.«
Palmer wartete die Frage, die Laurent ihm von sich aus nicht gern gestellt hätte, gar nicht erst ab. Er antwortete, es sei nicht das erste Mal, dass er nach Frankreich komme, und er habe Thérèse schon bei ihren Eltern gekannt, als sie noch sehr jung war. Wer die Eltern waren, wurde nicht gesagt. Thérèse pflegte zu erzählen, sie habe weder ihren Vater noch ihre Mutter gekannt.
George Sand, gezeichnet von Alfred de Musset
Die Vergangenheit von Fräulein Jacques war ein undurchdringliches Geheimnis für die Leute der Gesellschaft, die sich von ihr malen ließen, und für die kleine Zahl von Künstlern, die sie privat bei sich zu Hause empfing. Sie war nach Paris gekommen, keiner wusste woher, wann und mit wem. Man kannte sie erst seit zwei oder drei Jahren, nachdem ein von ihr gemaltes Porträt bei Kunstkennern große Beachtung gefunden hatte und überraschend zum Meisterwerk erklärt worden war. So kam es, dass mit einem Mal aus ihrer eher bescheidenen