Stabhäuser schwieg und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Draußen, vom Flur, waren Schritte zu hören, von Weitem hallte Gelächter.
Wiebke wiederholte: „Wie hoch ist der Schaden, den die Gentlemen-Räuber bislang verursacht haben?“
„Ich kann Ihnen dazu keine Angaben machen.“ Stabhäuser starrte auf die Tischplatte. „Die Banken haben es nicht gern, wenn wir konkrete Summen nennen“, brummte er.
„Insgesamt sechsstellig? Siebenstellig?“
„Zweites“, murrte Stabhäuser unwillig.
„Niedrig oder hoch siebenstellig?“ Wiebke wurde energisch.
„Herrgott! 1,9 Millionen.“
Wiebke verzog keine Miene und notierte die Summe. Ihr war klar, dass sie den Ermittlungschef soeben in einen Konflikt gestürzt hatte. Aber: War er den Banken verpflichtet? Natürlich ging es vordergründig immer um die Verhinderung von Nachahmungstätern. Sie wollte das Argument auch nicht von der Hand weisen. Nur in diesem Fall wog das Ausmaß der strafbaren Handlungen in ihren Augen schwerer.
Als Wiebke aufblickte, hatte Stabhäuser demonstrativ die Arme verschränkt. Sie interpretierte es als Warnung: Bis hierher und nicht weiter. Instinktiv steuerte sie um und dachte: Lass ihn was erzählen, gib ihm die Oberhand. Frag ihn, wie er das Täterpaar nach Stand der Ermittlungen charakterisieren würde. Vielleicht hatten sie ja einen Profiler hinzugezogen.
Darauf ging Stabhäuser ein: „Wenn man das Puzzle unserer Ermittlungsarbeit betrachtet, verdichten sich viele Teilchen zu einem Indiz. Danach vermuten wir, dass unsere Täter unter Umständen gar nicht von der Beute leben und deshalb auch nicht im kleinkriminellen Milieu zu suchen sind.“
„Nicht von der Beute leben? Wie ist das zu verstehen?“
Stabhäuser nahm seine Brille ab und legte sie auf den Aktenordner. Er sah Wiebke bedeutungsvoll an. „Ganz einfach, Frau Wolant: Wenn Sie 1,9 Millionen durch 15 Jahre teilen, dann kommen sie auf ein Jahreseinkommen von etwa 126.000. Für ein Familieneinkommen ist das wahrlich nicht schlecht. Je nach Anspruch aber auch nicht zu üppig. Wenn Sie einen gehobenen Lebensstil pflegen, zu dem ein schönes Haus, schicke Autos, gutes Essen und mehrere Urlaubsreisen im Jahr gehören – die Täter sind wohlbemerkt immer braungebrannt –, dann ist das sehr am Anschlag. Das schreiben Sie aber bitte nicht, das ist nur unter der Hand.“
Warum hat er dann nicht einfach die Klappe gehalten?, regte sich Wiebke auf. Unter den Tisch fallenlassen kam gar nicht in Frage. „Dann müssen wir zu einer Sprachregelung finden“, forderte sie. „Geben Sie mir bitte ein zitierfähiges Profil.“
Stabhäuser stierte zur Decke und feilte allem Anschein nach an einer passenden Formulierung. Er klopfte auf den Tisch. „Sagen wir mal so: Die Profile der beiden passen eher auf gutbürgerliche, sozial angepasste Personen, vielleicht sogar selbstständige Leute, die netten Nachbarn von nebenan.“
Da das Gespräch nun in ruhigen Fahrwassern verlief, richtete Wiebke ihr Interesse auf Fahndungshinweise aus der Bevölkerung. Über die Jahre war eine Fülle aufgezeichneter Bilder der Banküberfälle veröffentlicht worden. Zunächst bestätigte Stabhäuser, dass es darauf jede Menge Hinweise gegeben habe.
„Und tatsächlich keine heiße Spur darunter?“
Das Donnerwetter kam aus heiterem Himmel. „Ja, schauen Sie sich das Fotomaterial doch mal an!“, dröhnte er. Wie Sie sehen, sehen Sie – genau: Nichts! Die sind grottenschlecht, eigentlich skandalös. Miese Auflösung und in einem unvorteilhaften Winkel aufgenommen. Diese Videoaufzeichnungen beeindrucken die Täter nicht im Geringsten. Die schlendern da ganz entspannt in die Bank hinein! Nicht maskiert, nur lapidar mit Perücke, Brille, Mütze. Mittlerweile richten sie nicht einmal mehr ihre Waffen auf die Bankangestellten, sondern zeigen sie nur noch am Hosenbund vor. Ich sage Ihnen: die Banken sparen am falschen Ende.“ Der Wutausbruch Stabhäusers war die denkbar ungünstigste Ausgangssituation für einige Fragen, die noch offen waren. Beispielsweise jene nach verwertbaren DNA-Spuren. Die Täter klauten doch bei fast jedem Überfall ein Mitarbeiterfahrzeug zur Flucht und ließen es ein kurzes Stück später stehen. Diesen Aspekt schenkte sie sich, jedoch auf keinen Fall die Frage nach konkreten Verdächtigen.
„Kein Kommentar.“
„Wurden Ihre Ermittlungen durch richterliche Beschlüsse unterstützt?“
„Selbstverständlich.“
Wiebke erkannte an seinem erschrockenen Blick, dass es ihm herausgerutscht war. Es gab also Verdächtige. Noch während sie Verdächtige! Richterliche Beschlüsse, TK-Überwachung, Durchsuchung? in ihren Block notierte, hörte sie Stuhlbeine übers Parkett kratzen. Stabhäuser hatte sich in Lebensgröße vor ihr aufgebaut und murmelte fast unverständlich: „Tja, ich muss jetzt wieder, ich hab noch zu tun. War nett, Sie kennengelernt zu haben, Frau Wolant. Ach, und ...“, Stabhäuser zögerte, „... das, was ich über die Banken gesagt habe, streichen Sie am besten.“
Steht Deutschlands längste Bankraubserie vor Aufklärung? Bereits auf dem kurzen Fußweg bis zum Hochhaus feilte sie an einer Schlagzeile. An einer rotgeschalteten Fußgängerampel rief sie Schroeder an.
„Her damit, alle Fotos und 120 Zeilen Text. Um 18 Uhr ist Redaktionsschluss. Wird der Aufmacher“, lautete seine knappe Durchsage.
Verkrampft wie eine Anfängerin saß sie nun vor ihrem Laptop am runden Esstisch. Ihre Ellenbogen bohrten sich ins Pinienholz. Sie knetete die Finger, faltete die Hände, drückte sie gegen die Nase, runzelte die hohe Stirn, starrte Löcher in die Wand.
Das weiße Worddokument auf dem Bildschirm strahlte jungfräulich, der Cursor blinkte erwartungsvoll. Sie suchte nach einem passenden Einstieg in ihre Story. Die Zeitanzeige auf ihrem Computer lief gnadenlos weiter. 13:08, 13:09, 13:10 ...
In der ungeklärten Raubserie der sogenannten Gentlemen-Räuber hegt die Polizei ... Wiebke markierte den Text, mit einem Tastendruck war er auch schon wieder gelöscht.
13:28, 13:29, 13:30 ...
In der ungeklärten Gentlemen-Bankraubserie gibt es offenbar eine heiße Spur. Wie der Leiter der Karlsruher Ermittlungsgruppe, Kriminalhauptkommissar Erol Stabhäuser, gegenüber unserer Zeitung bestätigte, bestehe konkreter Anfangsverdacht ...
Sie tippte, löschte, sichtete ihre Notizen, wühlte in den wild verstreuten Archivkopien, tippte aufs Neue.
17:38, 17:39. Schnell! Noch einen guten Schluss, befeuerte sie sich. ...
Die Belohnung für sachdienliche Hinweise wurde zwischenzeitlich auf 50.000 Euro erhöht.
Wiebke klickte Speichern und Schließen.
Wo war die CD? Hektisch wühlte sie in ihrem Wildlederbeutel und schob den blanken Datenträger ins Laufwerk. Schmittke hatte ihr eine Auswahl von vier Täterfotos und sechs Phantombildern in Druckqualität auf die Scheibe kopiert. Schroeder wollte alles.
Flugs schrieb sie einen kurzen Begleittext in die E-Mail, hängte ihren Text an und lud das Bildmaterial hoch. Und: Senden.
17:55. Mit dem letzten Klick fühlte sie sich, als habe sie eine Schlacht gewonnen.
Sie erhob sich mit steifen Beinen, drückte ihre Wirbelsäule durch. Irgendwie fühlte sie sich ausgelaugt. Es gelüstete sie nach Kaffee und einer Zigarette. Der italienische Espressokocher stand noch ungereinigt auf dem Herd der aufgeräumten Küche. Da erklang Big Ben, der Klingelton ihres Handys.
Wiebke sprang zum Tisch. „Ja, hallo!“, rief sie ins Handy.
„Wolant, wo bleiben Sie denn?“ Schroeder.
„Es ist alles raus“, versicherte sie entspannt.
„Bei uns ist nichts eingegangen.“
„Ich schau mal auf den Rechner.“ Wiebke prüfte den Postausgang. „Irgendetwas stimmt nicht mit der Internetverbindung! Mein Rechner sendet immer noch“, murmelte sie verwundert.
„Bringen Sie das schleunigst in Ordnung“,