„Wissen Sie, ich erkenne mittlerweile meine Schweine am Gang. Ich weiß nicht, wie man das in Ihrem betulichen Alpendialekt sagt, deshalb hier noch eine Floskel, die selbst Sie verstehen sollten: Fahren Sie zur Hölle!“
Er lächelte zufrieden, während er einen flüchtigen Blick auf seine neue Armbanduhr warf, die er sich gegönnt hatte, nachdem ihm die Stadt Dortmund den Bürgerpreis für ‚besondere Verdienste‘ verliehen hatte. Eine Rolex Divemaster. Dafür müssten andere lange schuften. Ein Lächeln huschte über Lehmeiers Gesicht. Dann wurde sein Kopf von Sobukovs Säbel fein säuberlich und blitzschnell vom Rest des Körpers getrennt. Mit einem dumpfen Knall fiel Lehmeiers Kopf in die Buxbaumhecke, die neben seinem Büro zu ansehnlicher Größe herangewachsen war. Der kopflose Rest kippte vornüber zu Boden und beschrieb eine geradezu groteske Kurve.
Nun war es Alexej Sobukov, der zum Himmel hinaufsah und tief ein- und ausatmete. Er verspürte längst schon keine Befriedigung mehr beim Töten, vor allem wenn die Zielperson ein unbescholtener Bürger war. Aber er hatte keine Wahl. Während er einen letzten Blick auf die Leiche warf, säuberte er die Klinge seines Säbels, zündete sich dann eine Zigarette an und verließ den Tatort.
Keine fünf Stunden später saß Sobukov in der Lobby des Hotels Duke in Berlin und nippte an einem Wodka-Red-Bull, seinem Standard-Drink. Er half ihm dabei, mit nur drei bis vier Stunden Schlaf pro Tag auszukommen. Der Kellner hatte ihm freundlich zu verstehen gegeben, dass dies die letzte Runde sein würde. Gut, dass Alexej in Berlin war. Nicht New York war die Stadt, die niemals schlief, sondern Berlin. Und Alexej Sobukov kannte Berlin wie seine Westentasche. Immer wenn er Jobs in Deutschland zu erledigen hatte, zog es ihn nach getaner Arbeit in die Hauptstadt. Nirgendwo sonst in Deutschland konnte er so schnell abtauchen und unerkannt bleiben. Nur in Berlin schaffte er es, das schlechte Gewissen, das er immer häufiger nach einem Mord empfand, abzustreifen und im Nachtleben auf andere Gedanken zu kommen.
Wie so häufig zog es Alexej auch heute in den Rumtreiber, einen Club, der täglich bis in die späten Morgenstunden geöffnet hatte und eine Art Auffangbecken für alle war, die trotz eines deutlich erhöhten Alkoholpegels noch keine Lust verspürten, ins Bett zu gehen. Der Laden sowie der Großteil seiner Stammgäste waren ziemlich abgerockt. Conny, die Inhaberin, war Mitte vierzig. Sie begrüßte jeden ihrer Gäste mit Handschlag und kannte die Lebensgeschichte der meisten in- und auswendig. Als Alexej den Rumtreiber betrat, warf Conny ihm lächelnd eine Kusshand zu und unterhielt sich weiter intensiv mit einem jungen Mann in Pumps und schwarzem Lederminirock. Seine Perücke lag vor ihm auf dem Tresen, den Lippenstift und die Wimperntusche musste er sich kurz zuvor mit seinen Tränen verwischt haben. Er schluchzte herzzerreißend, während Conny ihn fest an sich drückte und ihn zu trösten versuchte.
Alexej setzte sich auf den letzten freien Barhocker und sah sich um. Die meisten Gäste kannte er gut. Die Luft im Rumtreiber war wie immer zum Schneiden. Hier gab es kein Rauchverbot. Aus den Boxen säuselte Marianne Rosenberg „Ich bin wie du“, als Alexej eine Hand auf seinem Oberschenkel spürte.
„Na, schöner Mann, so allein heute Abend?“
Der Typ, der vorhin noch schluchzend am Tresen saß, stand nun hinter ihm. Die Perücke schief auf seinem Kopf liegend, die Wimperntusche immer noch im Gesicht verteilt, blickte er Alexej fragend und gleichzeitig fordernd an.
„Conny hat mir gesagt, dass du keines von diesen Arschlöchern bist. Und wenn ich dich so ansehe, glaube ich, dass sie recht hat.“
Alexej blickte über die Schulter des Mannes hinweg zu Conny hinüber. Sie warf ihm noch eine Kusshand zu und zuckte mit den Schultern. Offenbar hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen, das heulende Elend loszuwerden. Conny hatte schon immer geahnt, dass Aljosha, wie sie ihn als eine der ganz wenigen Personen nennen durfte, ein mysteriöses Geheimnis mit sich herumtrug und nicht der war, für den er sich in ihrem Club ausgab. Wenn sie allerdings gewusst hätte, dass der dünne Mann mit dem leichten osteuropäischen Akzent einer der berüchtigsten Auftragskiller der Welt war, läge ihre Hand sicher immer noch tröstend auf dem Kopf des wimmernden Transvestiten.
„Wenn Conny das sagt, wird es wohl stimmen“, entgegnete Alex und legte seine Hand auf die des jungen Mannes. „Was ist mit dir passiert, warum weinst du? Und wie heißt du?“
Der Mann wedelte hektisch mit beiden Händen, als würde er gleich in Ohnmacht fallen.
„Oh mein Gott, wie unhöflich von mir“, begann er. „Ich heiße Francesca, aber meine Freunde dürfen mich Frank nennen.“
Er lachte so laut, dass es alle Gäste im Rumtreiber mitbekamen und spontan mitlachten, Alexej eingeschlossen.
„Dann nenne ich dich lieber Francesca, wenn du nichts dagegen hast. Ich habe nämlich keine Freunde.“ Dabei sah Alexej seinen Gesprächspartner mit undurchdringlicher Miene an. Francesca lachte abermals laut auf. Diesmal aber erwiderte Alexej das Lachen nicht.
„Erzähl mir jetzt, warum du so traurig bist.“ Alexej deutete auf die länglichen Narben an Francescas Unterarm.
„Das war ich selber“, wisperte sie. „Zweimal habe ich versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Selbst dafür bin ich wohl zu blöd.“
Wieder rann schwarze Wimperntusche über ihre Wangen.
„Ich …“, begann Francesca zögerlich, „ich hatte bisher nur Pech mit Männern. Aber der erste in meinem Leben war gleichzeitig der schlimmste!“
Alexej zeigte keinerlei Regung. Er ahnte, was als Nächstes kommen würde.
„Mein Vater ist ein echtes Schwein. Er kommt nicht klar damit, dass ich anders bin, dass ich seiner spießigen Idealvorstellung eines Sohnes nicht entspreche.“
„Was hat er getan?“, fragte Sobukov mit seltsam heiserer Stimme.
„Getan? Er hat mir nichts getan. Jedenfalls nichts, das man sehen kann.“
Francesca gab Conny ein Zeichen. Wenige Sekunden später stand ein Glas Schwarzbier auf dem Tresen. Francesca nahm einen tiefen Schluck.
„Seitdem er von meiner ‚Veranlagung‘ weiß, hat er kein einziges Wort mehr mit mir geredet. Und das, obwohl wir noch lange unter einem Dach gewohnt haben und meine Mutter mit Engelszungen auf ihn eingeredet hat. Ich war plötzlich Luft für ihn. Im Grunde genommen waren ihm von dem Zeitpunkt an, als aus Frank Baldauf Francesca wurde, alle anderen Menschen wichtiger als ich. Seine Kollegen, unsere Nachbarn. Einfach alle. Er hat meine Verwandlung nie verstanden, und schon gar nicht toleriert!“
Alexej kniff die Augen zusammen.
„Und deshalb hast du dir irgendwann die Pulsadern aufgeschnitten? Warum hast du ihn nicht einfach getötet?“
Francesca ließ beinahe ihr Bierglas fallen und sah Alexej schockiert an. Sobukov erwiderte den Blick, um dann loszuprusten.
„Kleiner Scherz, my sweet transvestite. Ich erledige das für dich!“ Er nahm Francescas Arm und zog sie zu sich. „Und das, meine Liebe, ist jetzt mein voller Ernst!“
6
Jens Kleibrink hatte das Klingeln des Weckers nicht gehört. Seine Frau stand im Türrahmen und betrachtete ihn liebevoll, während er, die rechte Hand im Schritt und den Kopf ins Kissen gedrückt, genussvoll schnarchend im Bett lag. Elisabeth war voller Tatendrang.
Zu Hause war es immer Jens, der als Erster aufstand, sobald der Wecker um sechs Uhr klingelte. Er bereitete das Frühstück zu, während Elisabeth noch einen Moment im Bett verharrte und erst allmählich, nach intensivem Recken und Strecken, wach wurde und aufstand. Danach betrat Elisabeth leise das Kinderzimmer, um Benny zu wecken. Für den Elfjährigen war das frühe Aufstehen eine einzige Qual. Sie wussten nicht mehr, wie oft sie sich gefragt hatten, welchen Sinn und Zweck der Unterrichtsbeginn um 7:55 Uhr erfüllte. Sogar einige Lehrer hatten in Gesprächen durchblicken lassen, dass ihnen der frühe Vogel herzlich egal war und sie versuchten, Verständnis für morgenmuffelige Kinder aufzubringen. Benny Kleibrink war allerdings ein Sonderfall. Im Grunde war der Junge mit den unbändigen blonden