Totkehlchen. Thomas Matiszik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Matiszik
Издательство: Bookwire
Серия: Kommissar Modrich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783942672719
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nicht einmal vier Monaten hatte ihn Max Huber, sein Kollege vom Polizeirevier Neuss, angerufen, während er an einem Fortbildungsseminar für polizeiliche Führungskräfte in Koblenz teilnahm.

      „Gregor, hast du von dem Flugzeugabsturz gehört?“

      Frobisch stockte augenblicklich der Atem. Seine Frau Jill war mit ihrem gemeinsamen Sohn Lucas übers Wochenende nach Rom geflogen und sollte an diesem Tag planmäßig zurückkehren. Er hatte noch am Vorabend mit den beiden telefoniert.

      „Mit welcher Fluggesellschaft sind Jill und Lucas geflogen?“, fragte Max Huber vorsichtig.

      „Air Italy, glaube ich …“

      „Scheiße“, kam es knapp zurück, „Wie schnell kannst du dich von deinem Seminar loseisen?“

      Frobisch nahm Hubers Worte wie hinter Glas wahr. Sie prallten von einer unsichtbaren Scheibe ab und drangen nicht komplett bis zu ihm vor. Trotzdem hatte er begriffen. Schweigend erhob er sich und verließ, das Handy immer noch am Ohr, den Raum. Der Seminarleiter hob protestierend den Arm und rief Frobisch „Moment mal, was soll das werden?“ hinterher. Frobisch knallte die Tür hinter sich zu, verließ das Gebäude durch die Drehtür am Haupteingang und steuerte schnurstracks auf das erstbeste freie Taxi zu.

      „Maritim Hotel, und bitte beeilen Sie sich!“

      Max Huber versuchte alles, um Frobisch beizustehen.

      „Gregor, es gibt noch keinerlei gesicherte Erkenntnisse über die Zahl der Opfer. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht hat der Pilot ja eine Notlandung hingekriegt und es gibt Überlebende!“

      Der Taxifahrer hatte das Radio eingeschaltet. Die Nachrichten begannen: „Tragischer Flugzeugabsturz über den Alpen fordert fast zweihundert Tote.“ Gregor Frobisch hielt den Atem an und legte zitternd auf.

      „Hallo? Hallooo? Die anderen Gäste sind schon ausgestiegen und wollen gern den Park erkunden. Möchten Sie nicht mitkommen?“

      Die Reiseleiterin sah Frobisch besorgt an. Er saß im hinteren Teil des Busses wie ein Häufchen Elend, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, und wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Alles kam wieder hoch: Der Moment, als er die ersten Bilder von der Absturzstelle gesehen hatte. Ein einziges Trümmerfeld. Es hatte Tage gedauert, bis man seine Frau und seinen Sohn identifiziert hatte. Und obwohl ihm alle Kollegen davon abrieten, bestand Frobisch darauf, sie noch einmal zu sehen. Oder besser gesagt das, was von ihnen übrig geblieben war. Die Leere im Haus, die Stille, die ihm jedes Mal, wenn er den Flur betrat und ein „Hallo Schatz“ oder „Papaaaa“ erwartet hätte, buchstäblich den Atem raubte und ihn um den Verstand zu bringen drohte. Frobisch war sehr schnell klar geworden, dass er dringend einen Tapetenwechsel benötigte. Es musste nicht weit sein. Die Hauptsache war, wegzukommen von dem Ort, an dem er die letzten Jahre mit seiner Familie verbracht hatte. Als er die Stellenausschreibung für den Posten des Polizeichefs in Dortmund sah, musste er nicht lange nachdenken und bewarb sich noch am gleichen Tag. Der Ruhrpott mit seinem bisweilen zwar etwas ruppigen, aber immer ehrlichen und direkten Charme würde ihn auf andere Gedanken bringen. Da war er sich ganz sicher. Außerdem hatte er von Peer Modrich und seiner Kollegin gehört. Gudrun Faltermeyer hieß sie, wenn er sich nicht täuschte. Wenn es stimmte, was alle sagten, waren die beiden wohl ziemliche Originale und dennoch absolut integre Persönlichkeiten mit einem untrüglichen kriminalistischen Spürsinn. Die Zusammenarbeit mit den beiden würde sicherlich Spaß machen.

      „Ich komme“, schniefte Frobisch und trottete der Reiseleiterin hinterher. Der Sauerstoff tat ihm gut, Hitze hin oder her. Morgen ging sein Flieger zurück nach Deutschland. Übermorgen würde sein erster Arbeitstag in Dortmund sein. Frobischs Neuanfang war überfällig.

      2

      Keine Frage, das Warten hatte sich gelohnt. Das Sparen auch. Elisabeth lag neben ihrem Mann im Bett und fasste zärtlich seine Hand. Jens Kleibrink wusste jetzt, dass er alles richtig gemacht hatte. iSimangaliso war vielleicht nicht der berühmteste Nationalpark Südafrikas, aber vermutlich der schönste. Der Tipp seines Arbeitskollegen Volker erwies sich als goldrichtig. Elisabeth schaute selig lächelnd Richtung Fenster. Ihre Unterkunft war, legte man westeuropäische Standards zugrunde, eher spartanisch. Eine bessere Lehmhütte, lediglich mit dem Nötigsten ausgestattet. Kein Fernseher, kein WLAN, dafür aber eine zuverlässige Klimaanlage, die bei den vorherrschenden Temperaturen unverzichtbar war.

      Elisabeth seufzte und begann, Jens’ Arm zu streicheln. Er kannte diese Art des Streichelns und frohlockte. Auf einmal begann der Boden zu beben. Erst leicht, kaum wahrnehmbar, dann immer stärker. Elisabeth klammerte sich wie ein ängstliches Kind an ihren Mann. Jens spürte, wie sich sein Hals zuschnürte, versuchte aber, die aufsteigende Panik vor seiner Frau zu verbergen. Das durfte jetzt nicht sein. Sie hatten sich diesen Urlaub verdammt noch mal verdient. Und nun bebte die Erde. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Jens sprang aus dem Bett und zog Elisabeth hinter sich her.

      „Wir müssen hier raus!“, befahl er. „Wenn das wirklich ein Erdbeben ist, sind wir in dieser Hütte nicht sicher.“

      Zögerlich folgte Elisabeth ihrem Mann, nahezu gelähmt vor Entsetzen. Alles Mögliche schoss ihr durch den Kopf, vor allem eins: Was würde mit Benny passieren, wenn ihnen nun etwas zustieße? Ihr Sohn verbrachte die Tage bei Elisabeths bester und ältester Freundin Camilla. Verwandte gab es nicht mehr. Nicht auszudenken, wenn … Plötzlich hielt sie inne. Jens stand im Türrahmen und stammelte: „Jetzt sieh dir das an. Das ist ja Wahnsinn!“

      Elisabeth war einen guten Kopf kleiner als ihr Mann und lugte, immer noch ängstlich, unter seinem angewinkelten Arm in Richtung Straße. Im Licht der Laternen konnten sie den Grund für das vermeintliche Erdbeben sehen: Eine Herde Flusspferde polterte durch das Dorf. Ein gutes Dutzend musste das sein. Elisabeth und Jens standen wie angewurzelt und mit offenem Mund da. So ein Naturschauspiel bekam man definitiv nur hier, im iSimangaliso, geboten. Nirgendwo sonst auf der Welt gab es eine größere Flusspferdpopulation, nirgendwo sonst konnte man die riesigen Tiere durch die Straßen laufen sehen. Dabei sei es außerordentlich wichtig, so hatte es ihnen ein Wildhüter nach ihrer Ankunft erklärt, dass man die Tiere in Ruhe ließ. Hippos sehen zwar drollig aus, sind aber brandgefährlich und trotz ihrer Körperfülle sehr schnell. Stellte man sich ihnen in den Weg, riskierte man unweigerlich sein Leben.

      Das ganze Spektakel dauerte keine Minute. Die Erde hörte wieder auf zu beben, Elisabeths und Jens’ Puls beruhigte sich aber nur ganz allmählich.

      „Ich brauche jetzt erst mal etwas Starkes zu trinken“, meinte Jens.

      „Ich brauche auch etwas Starkes“, erwiderte Elisabeth lächelnd, nahm seinen Arm und zog ihn zu sich.

      3

      Es stand wirklich schlecht um den kleinen Leo Faltermeyer. Nachdem sein gebeutelter Körper die ersten beiden Implantate wieder abgestoßen hatte, bereiteten die Ärzte den Jungen nun auf eine dritte Operation vor. In vier Tagen sollte es so weit sein. Und auch wenn das Neurochirurgen-Team am Uniklinikum in Aachen eins der besten in Europa war, gab es für Leo nur noch diese eine Chance. Sollte das neue Implantat, eine Spezialanfertigung aus den USA, wieder für Probleme sorgen, würde man eine weitere OP, wenn überhaupt, erst in ein paar Jahren angehen können. Guddi saß am Bett ihres Sohnes und las ihm aus Michel aus Lönneberga vor. Leo liebte dieses Buch über alles. Seit dem unseligen Abend in der Holzwickeder Lagerhalle, als ein Querschläger aus Kurt Heppners Waffe ihm das Rückenmark durchtrennt hatte, war das Lachen aus Leos Gesicht verschwunden. Dass nun selbst Astrid Lindgrens Kinderbuch nicht mehr für ein Lächeln sorgen konnt, machte Guddi unendlich traurig. Immer wenn sie alleine war und ihren Gedanken nachhing, umhüllten dunkle Nebelschwaden ihr Gemüt und ließen sie weder schlafen noch Appetit verspüren. Nur gut, dass sie noch nicht wieder im Dienst war.

      Das letzte Mal, als sie Peer getroffen hatte, konnte sie ihren Schlafmangel noch halbwegs kaschieren. Die teuren Pflegeprodukte, die Hartmut ihr geschenkt hatte, hielten wirklich, was sie versprachen. Aber nun, nach Monaten der Schlaf- und Appetitlosigkeit, sah Guddi aus wie ein Zombie. Abgemagert, tiefe Augenringe und blass wie eine Wasserleiche. Ihren Badezimmerspiegel, der allmorgendlich Zeugnis