Knall 2. Harald Kiwull. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harald Kiwull
Издательство: Bookwire
Серия: Lindemanns
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783963080265
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im Abteil. Eine schlanke, attraktive Frau im Pelzmantel mit kurzen, blonden Haaren schob ihren großen Koffer herein.

      Ich half ihr aus dem Mantel und versorgte das schwere Gepäckstück. Als ich mich wieder zu ihr umdrehte, hatte sie mein Buch, das zu Boden gefallen und von ihr aufgehoben worden war, in der Hand. Sie las den Titel und sah mich mit einem reizenden, etwas spöttischen Lächeln an.

      2

      Am Dienstagmorgen um halb acht bog ich mit meinem geliebten alten Lancia HP Executive durch das Tor in den Hof des Landgerichtes. Es war ein klarer, kalter Wintertag. Der große Parkplatz war nur etwa zur Hälfte belegt. Die Richterschaft pflegt eher etwas später einzutreffen. Nach einer Stunde würde er bis auf den letzten Platz besetzt sein. Ich hatte ein wunderbares, abwechslungsreiches und interessantes Wochenende im Norden hinter mir und fühlte mich ausgeruht und entspannt. Am späten Sonntagabend war ich zurückgekommen.

      Am Montag hatte ich nach dem wöchentlichen Referendarskurs Strafrecht noch einmal bis in den Abend die Vorbereitung für meine Strafsitzung am nächsten Tag überprüft. Angeklagt waren der Führer einer Rangierlokomotive und der Leiter einer Arbeitskolonne im Gleisbau der Bundesbahn. Beide etwa fünfzig und seit Jahren im Dienst. Bei Arbeiten in einer Baustelle an einer Bahnlinie erfasste die möglicherweise zu schnell fahrende Lokomotive einen 30-jährigen Bauarbeiter aus Polen, der dabei ums Leben kam. Er hinterließ eine schwangere Ehefrau und zwei Kinder, die in Polen lebten. Es waren zwölf Zeugen und zwei Sachverständige, verteilt auf zwei Sitzungstage am Dienstag und Donnerstag, von mir geladen worden. In den Wochen zuvor hatte ich mich intensiv mit den umfangreichen Sicherheitsvorschriften im Gleisbau der Bahn und den polizeilichen Ermittlungen, zusammengefasst in vierundzwanzig Leitz-Ordnern, beschäftigt. Ich war gut vorbereitet.

      Kurz vor neun betrat ich das Beratungszimmer, wo mich schon die beiden Schöffen erwarteten. Darunter auch Immerle, ein Konditor, den ich wegen seiner vorzüglichen, selbst gemachten Pralinen, die er regelmäßig mitbrachte, ins Herz geschlossen hatte.

      Ich informierte die beiden, worum es heute gehen werde. Sie hatten schon an vielen Strafsitzungen teilgenommen, hörten aufmerksam zu, und ich musste ihnen nicht mehr die Einzelheiten des Ablaufes erklären. Ihren Fragen merkte ich das Interesse und auch die aus den früheren Verhandlungen gewonnene Sachkunde an. Eine Strafsitzung mit solchen Schöffen war für mich immer eine echte Hilfe, was ich ihnen auch sagte.

      Auf dem Weg zum Sitzungssaal war mir im Treppenhaus Frau von Hühnlein entgegengekommen. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte sie mich nicht angesprochen, sondern war mit finsterem Gesicht an mir vorbeigerauscht. Mir war auch klar, warum. Frau Kuch, verantwortlich für unsere gemeinsame Geschäftsstelle, hatte mir nämlich schon in der Frühe mit einer gewissen Empörung in der Stimme mitgeteilt, dass Frau von Hühnlein am Freitag eine Haftbefehlsbeschwerde habe bearbeiten müssen. Als Vertreterin, eigentlich wäre ich zuständig gewesen. Hühnlein ist ihr Liebling, und ab und zu muss ich darunter leiden.

      Als ich gemeinsam mit den Schöffen den Sitzungssaal betrat, erhoben sich die Anwesenden. In den etwa zwanzig Sitzreihen mit Klappstühlen waren fast alle Plätze belegt. Das schreckliche Ereignis hatte in der Öffentlichkeit ziemliches Aufsehen erregt und war auch in der Presse über Tage erörtert worden. Auch einen Vertreter der Karlsruher Presse erkannte ich und im Hintergrund den Rentner Paul Zuber, der keine meiner Verhandlungen versäumte, und den ich deswegen „meine Öffentlichkeit“ getauft hatte.

      Die Angeklagten mit den Rechtsanwälten und ebenso die Nebenklägerin, die aus Polen angereiste Witwe des Opfers, mit ihrer Rechtsanwältin blickten mir ernst entgegen. Als Vertreter der Staatsanwaltschaft war Dr. Hofer erschienen, den ich bereits über Jahre kannte und zu dem ich ein gutes Verhältnis hatte.

      Nach einigen Formalien und dem Verlesen der Anklage begann ich mit den Vernehmungen der Angeklagten zur Person. Man merkte beiden die Erschütterung über das Geschehen an, und sie wiederholten mehrfach, wie unendlich leid ihnen alles tue. Die Verteidiger waren mir gut bekannt und auch, dass ihnen eine Konfliktverteidigung mit zermürbenden Ablehnungs- und sachwidrigen Beweisanträgen fern lag. Sie waren, wie das Gericht, an der Aufklärung des Sachverhaltes interessiert und natürlich an dem, was zugunsten ihrer Mandanten sprach.

      Ich befand mich im gewohnten Ablauf. Es würde eine zwar schwierige und wahrscheinlich auch sehr belastende, aber nicht nervige Verhandlung werden.

      Gegen halb elf öffnete sich die Tür zum Sitzungssaal und Präsident Kupfer trat mit angespanntem Gesicht herein, dahinter Kommissar Haken von der Kriminalpolizei und ein weiterer groß gewachsener Herr, den ich nicht kannte. Erstaunt unterbrach ich meine Befragung und blickte Kupfer entgegen, der zu mir an den etwas erhöhten Richtertisch trat.

      „Dr. Knall, Sie müssen die Sitzung unterbrechen. Es hat sich ein Problem ergeben. Wir müssen mit Ihnen sprechen.“

      Fassungslos sah ich ihn an. „Aber ich bin mitten in der Verhandlung. Vor der Tür stehen die Zeugen und warten auf ihre Vernehmung. Die Sachverständigen werden auch demnächst erscheinen.“

      Der Präsident blickte mich eindringlich an. „Die Sache duldet keinen Aufschub. Sie müssen sofort mitkommen.“

      „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Man kann doch nicht so ohne Weiteres meine Verhandlung unterbrechen. Worum geht es denn, zum Teufel? Was ist denn so wichtig?“, fauchte ich, inzwischen richtig wütend.

      „Knall, machen Sie keine Schwierigkeiten. Unterbrechen Sie, und kommen Sie mit!“, zischte er zurück.

      Die Schöffen beobachteten uns erschrocken von beiden Seiten. Im Sitzungssaal versuchte man mitzubekommen, was da am Richtertisch vor sich ging.

      Ich sah Kupfer an und schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, Sie

       haben einen guten Grund, mich in meiner richterlichen Unabhängigkeit zu beeinträchtigen.“

      Ich merkte, dass ihm die Sache unheimlich peinlich war. „Es geht nicht anders. Vielleicht klärt sich alles schnell auf.“

      „Die Sitzung wird für eine Stunde unterbrochen. Fortsetzung der Verhandlung um halb zwölf“, teilte ich den Anwesenden mit, die sich unter lautem Gemurmel erhoben.

      Mit den Schöffen ging ich durch die Tür hinter dem Richtertisch in das Beratungszimmer. Während ich meine Robe auszog, waren mir der Präsident, Haken und der weitere Herr gefolgt.

      „Gehen wir in mein Büro“, sprach mich der Präsident an und öffnete die Tür zum Flur. Durch Gruppen der aufgeregt miteinander sprechenden Zuhörer, die aus dem Sitzungssaal strömten, vorbei an den immer noch erstaunt blickenden Verteidigern, folgte ich dem Präsidenten in das hohe Treppenhaus und hinauf in das obere Stockwerk. An den Wänden hingen großformatige, sehr farbige Arbeiten der aktuellen Ausstellung unseres Kunstvereins „Kunst im Landgericht“ mit Künstlern aus der Pfalz. Grafit, Pigment, Leinöl auf Papier schoss es mir im Vorbeigehen durch den Kopf. Mehrere Kollegen, die uns entgegen kamen, blieben stehen und sahen verblüfft der eiligen Gruppe nach. Mein Freund Johannes, der Vorsitzende des Schwurgerichtes, trat mir in den Weg und wollte mich ansprechen.

      „Nicht jetzt, Herr Anglerter!“, herrschte Kupfer ihn an und schob den Kollegen zur Seite. Verdattert blickte Johannes uns hinterher.

      Anita Steinert, die Vorzimmerdame des Präsidenten, zu der ich ein herzliches Verhältnis habe, blickte mich beim Eintreten nicht an, sondern vielmehr verlegen auf die Papiere auf ihrem Schreibtisch.

      Langsam wurde mir etwas mulmig zumute. Vor allem, weil ich keine Ahnung hatte, was eigentlich vorging. Ich kannte Kupfer gut genug um zu wissen, dass er für eine derartige Aktion triftige Gründe haben musste. Ich merkte, dass ich ziemlich nervös wurde.

      Nachdem wir sein Büro betreten hatten, schloss er die Tür

       zum Vorzimmer und drehte sich zu mir um.

      „Heiko Nielsen von der Mordkommission Stade“, stellte er den unbekannten Herrn vor und zu diesem gewandt: „Das ist Dr. Maximilian Knall.“

      Verblüfft schaute ich erst den Präsidenten und dann Nielsen an. „Mordkommission Stade? Was soll das denn?“, fragte ich und reichte ihm die Hand. Nielsen hatte scharf geschnittene