Natürlich ging diese Veränderung, wie der erfahrene Leser schon ahnen wird, nicht schlagartig und auch nicht ohne ein gewisses Zutun der Familien vonstatten.
Da ist zunächst daran zu denken, daß die beiden Kinder – Katja, ein schwarzhaariges Mädchen von feingliedriger aber drahtiger Gestalt, und Igor, ein großer rotblonder Junge mit kleinen blauen Äuglein und runden fleischigen Waden – prächtig heranwuchsen, und daß beide Elternpaare von Stolz erfüllt waren ob solcher gesunder Nachkommenschaft.
Das Ungemach in den Beziehungen unserer beiden Hauptpersonen begann aber eigentlich schon in ihren frühen Kindheitstagen. Da fingen die beiden an, sich gegenseitig zu beschimpfen, ja mitunter gar handgreiflich gegeneinander zu werden. In jenen Tagen bemühten die beiden denn auch zum ersten Mal die fortan gebräuchlichen Schimpfwörter »schwarze Hexe« – von Igor auf Katja gemünzt – und »roter Teufel« – von Katja dem Igor wegen seines rötlichen Haares entgegengeworfen.
Das eigensinnige Verhalten der beiden steigerte sich dann eher noch, wenn sie bei den gegenseitigen Besuchen der Familien aufgefordert wurden – was damals ganz üblich war –, über ihren hohen geistigen Entwicklungsstand Zeugnis abzulegen, um die versammelte Gesellschaft in Erstaunen zu versetzen. Da sollte dann einmal ein Liedchen vorgesungen werden, ein anderes Mal ein kleines Gedicht rezitiert oder gar eine Rechenaufgabe »stante pede« gelöst werden.
Das führte indessen sowohl bei Katja wie auch bei Igor zu einer vollendeten Verweigerungshaltung, so daß aus ihnen auch nicht das Geringste herauszubringen war. Aber nicht nur das! In solchen Fällen fing Igor zu schreien an, knallte mit seiner kleinen Peitsche, die er ständig bei sich führte, so daß man schon froh war, daß nicht irgendeine der im Wohnzimmer der Kaminskis aufgestellten Porzellanfiguren dabei zu Schaden kam. Außerdem pflegte er laut zu rufen: »Anspannen, Sebastian, wir fahren nach Hause!«
Katja aber stand Igor in dieser Hinsicht kaum nach, indem sie bei solchen Gelegenheiten laut zu kreischen begann und sich in einem Schrank oder hinter einer Truhe, mochte dies nun bei den Kaminskis oder den Alexandrowitsches geschehen, zu verstecken pflegte.
Da die Eltern einsehen mußten, daß derartige Übungen eher dazu angetan waren, ihre eigene Erziehungsunfähigkeit als die Fortschritte ihrer Kinder zu dokumentieren, unterließen sie es bald, die Kinder bei den gegenseitigen Besuchen mitzunehmen, was aber die Distanz der Kinder in ihrem Verhalten zueinander nur noch erhöhte.
So geschah es dann, daß sie sich in den seltenen Fällen, da sie sich auf dem zwischen den beiden Grundstücken gelegenen Erlenweg begegneten, gegenseitig beschimpften, voreinander ausspuckten, wenn auch nicht handgreiflich traktierten.
Auch die nachfolgenden Entwicklungsphasen brachten die Kinder einander nicht näher. Trat Igor in eine Militärakademie ein, so erfuhr Katja ihre Erziehung, oder was man dafür hielt, auf einem Internat.
Als sie einmal zu jener Zeit einander auf einem Ball begegneten, erschraken sie fast darüber, wie erwachsen der jeweils andere inzwischen geworden war, und Igor konnte nicht umhin, sich noch Monate danach Katjas gertengleicher Gestalt beim Tanze zu erinnern. Aber er hatte sich am selben Abend doch nicht überwinden können, über die Grube, die zwischen beiden gewachsen war, hinweg zu springen und sie um einen Tanz zu bitten.
Bei aller anwachsenden Feindschaft der Kinder gegeneinander blieben die Eltern doch über lange Zeit gute Nachbarn. Zwar nahmen die Besuche langsam ab, aber man half sich doch, wo man konnte, und sei es auch nur, um eine fehlende Sense zu ersetzen bei der anstehenden »Kornaust«. Indessen ging all solches nachbarschaftliches Helfen an den beiden Kindern vorbei, da sie entweder nicht zu Hause waren oder doch nicht von solchem Handeln der Eltern erfuhren.
Die Feindschaft von Katja und Igor erfuhr ihren Höhepunkt aber erst nach dem Tode ihrer Eltern. Beide waren im Grunde von einem ähnlichen Schicksal betroffen: Nicht nur, daß sie ihre Eltern sehr früh verloren hatten. Es hatte sich für beide auch nicht ein Ehepartner eingestellt, so daß es zuletzt in ihrer Nähe keine Person mehr gab, die die angestaute Feindschaft in sanftere Bahnen hätte lenken können. Vielmehr konnte jetzt, da sie zu Herren auf ihren Besitzungen geworden waren, der Eigensinn ohne weitere Einschränkungen nach außen treten, denn die Dienerschaft traute sich eine mäßigende Einflußnahme, selbst wenn man ihr eine solche zugestanden hätte, in keiner Weise zu.
Eine besondere Rolle kam dabei dem schon erwähnten, von Erlen umsäumten Weg zu, der die Grenze zwischen den zwei Besitzungen markierte. Dieser Erlenweg wurde geradezu zum Aufmarschgebiet der feindlich gegeneinander antretenden Kräfte. Pflegte Katja auf einem Rappen diesen Weg hinunter zu galoppieren, so stürmte Igor in einer Gig, einer kleinen zweirädrigen Kutsche, daher, wobei er stehend das Pferd lenkte, so daß im Ganzen der Eindruck eines rasenden römischen Kampfwagens entstand.
Begegneten sie einander – und dies geschah sehr häufig, da beide die Mittagspause für ihren Schaukampf nutzten –, so schauten sie meistens zur Seite, um zu demonstrieren, daß der andere für sie Luft sei, was dann in einigem Widerspruch dazu stand, daß sie ja gerade für den anderen diese fragwürdige Veranstaltung unternahmen.
Einmal aber konnte es Igor bei solch einer Gelegenheit nicht unterlassen, dem gerade vorbei stürmenden Rappen einen kurzen Peitschenschlag auf die Hinterbeine zu versetzen, so daß dieser sich aufbäumte und Katja fast heruntergefallen wäre. Aber sie war eine gute Reiterin und konnte das scheu gewordene Pferd bändigen.
Igor war damals mit einem unguten Gefühl nach Hause gefahren und stand mehrere Monate in der quälenden Erwartung, von Katja eine Anzeige wegen einer groben Behinderung oder Gefährdung der Gesundheit zu erhalten. Aber nichts geschah.
Dann aber – es mußte wohl ein ganzes Jahr seit jenem Vorfall vergangen sein – erhielt er doch von Katja eine Anzeige, aber jetzt in einer ganz anderen Sache. Sie verklagte ihn nun wegen des Erlenweges und nahm für sich in Anspruch, daß dieser gänzlich zu ihrem Besitz gehören sollte, weshalb denn auch das Gericht dem Igor Alexandrowitsch die Benutzung desselben zu untersagen habe.
Das verschlug Igor die Sprache, und das Gesinde in seinem Haus wehklagte ob solcher Feindschaft, pries aber Gott, daß Igors »selige Eltern« all dies nicht mehr erleben mußten.
Nachdem die erste Bestürzung ob dieser Klage vorüber war, er seine Fassung wieder erlangt hatte, vergrub Igor sich hinter seinem Schreibtisch, holte alte Akten vom Boden und besuchte gar das Katasteramt in Tilsit, um alles Mögliche herbeizuschaffen, das den Erlenweg als sein Eigentum dokumentieren sollte.
Das Urteil war dann im Grunde auch eine Niederlage für Katja. Aber wie Urteile es so an sich haben, konnten beide die Sache doch wieder so wenden, daß sie als Sieger dastanden. Zwar wurde im Urteil der Erlenweg eindeutig als Besitz des Gutes Alexandrowitsch herausgestellt, aber da nun inzwischen seine Nutzung durch die Kaminskis wie auch durch andere, die ihre Milch zur Straße transportierten, zu einem Gewohnheitsrecht geworden sei, wurde er durch dieses Gerichtsurteil zu einem öffentlichen Weg deklariert, womit es denn auch der Katja erlaubt wurde, ihn für ihre Ritte weiterhin zu nutzen. Allerdings wurde ein Streifen, der so breit war wie dieser Weg, von der anliegenden Erlenschonung der Katja Kaminski abgetrennt und den Besitzungen Igors zugeschlagen – dies als ein Ausgleich dafür, daß sein Weg, ab jetzt in rechtlicher Weise, der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurde.
Die meisten Leute in Schraten und Umgebung hatten dieses Urteil als ein salomonisches gepriesen, die beiden Kontrahenten aber waren, als der Richter Schimkat ihnen das Urteil verlas, mit hochrotem Kopfe und ohne Gruß aus dem Gerichtssaal gestürmt.
Erst viel später war beiden zu Bewußtsein gekommen, daß sie, im engeren Sinne des Wortes, ja gar nicht verloren sondern viel eher gewonnen hatten. Bei Igor hatte es zu dem geführt, was seine Dienerschaft »die Erlenfahrten« nannte. Wieder fuhr er – und das fast täglich – den Erlenweg entlang, aber jetzt nicht mehr aufrecht stehend in einer Gig. Nein, – er hatte ja den Kampf gewonnen und der schwarzen Hexe durch ein gerichtliches Verfahren einen Streifen Erlenschonung abgenommen. Dies feierte er nun, indem er in einem offenen Landauer daher fuhr, dessen vier Ecken durch große Erlenzweige geschmückt waren, – Zeichen der gewonnenen Gerichtsschlacht und des gewonnenen Erlenstreifens.