Am 2. Oktober 2009 fand in der Nürnberger Tafelhalle zum vierten Mal die Gala zur Verleihung des von der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur, vom kicker und von einem Geldinstitut gestifteten Deutschen Fußball-Kulturpreises statt. In der Kategorie »Fußballbuch des Jahres« wurde Péter Esterházy für seinen Roman Keine Kunst (Berlin 2009) ausgezeichnet, sehr zu Recht und natürlich nicht allein deshalb, weil in ebendiesem Buch auf Seite 149 zu lesen ist: »Die Spitze der Literatur erreichte ich in ihren Augen, als die deutsche Fußballakademie ein Lob zweiten Grades für mein Buch aussprach und ich bei dieser Gelegenheit am Nürnberger Galaabend die Hand des großen Franz Beckenbauer schütteln durfte. Mein Sohn hat Beckenbauer die Hand geschüttelt, sie lotete die Situation aus, dann bin ich also die Mutter dessen, der Beckenbauer die Hand geschüttelt hat. […] Der Franz und mein Sohn, seufzte sie glücklich, mein Held! […]«
Einer meiner Fußballhelden, ja der von mir vielleicht am meisten verehrte Fußballheld ist César Luis Menotti. »El Flaco«, »der Dürre«, ist ein großer, großer Mann – nicht nur des Sports. Er ist ein aufrechter Humanist und Sozialist, auch dafür adoriere ich ihn, und manchmal bin ich sogar geneigt, Diego Maradona beizupflichten, der sagte: »Der Dürre ist Gott.«
Menotti erhielt an diesem Abend im Oktober 2009 den »Walther-Bensemann-Sonderpreis«, eine Auszeichnung »für außergewöhnliches Engagement mit Mut und Pioniergeist, für gesellschaftliche Verantwortung, Fair play und interkulturelle Verständigung im Umfeld des Fußballs«.
Eine bessere Wahl hätte die Jury kaum treffen können, vor allem deshalb, weil ich mich an diesem 2. Oktober 2009 zwei Stunden oder länger im selben Raum aufhalten durfte, in dem Menotti war – ein schüchtern wirkender, taktvoller Mann, dem bei seinen Dankesworten Tränen in den Augen standen. Es waren unbeschreiblich würdevolle Momente.
Péter Esterházy, dem ich später die Hand schütteln durfte, offenbarte gegenüber der Nürnberger Zeitung: »Mit César Luis Menotti auf einer Bühne zu stehen, da habe ich eine kindliche Freude. 2006 war ich auch bei der Gala, da traf ich Franz Beckenbauer. Mir bedeuten diese Namen viel mehr, als es normal ist. Ich erinnere mich, als ich das erstemal Ferenc Puskás getroffen habe. Das war, als ob ich mich mit Goethe treffen würde.«
Spät am Abend, als wir in kleinem Kreis im Hotel Le Méridien zusammensaßen, lugte Menotti noch einmal in die Bar hinein. Ich wollte aufstehen, um ihm kurz die Hand zu schütteln, aber ich traute mich nicht, und dennoch maße ich mir an, diesen Vorbemerkungen den inoffiziellen Titel »Wie ich einmal César Luis Menotti traf« zu geben.
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Zu den hier in der Reihenfolge ihres Ersterscheinens zusammengestellten Texten sind nähere Hinweise nicht vonnöten, finde ich – vielleicht außer jenen, daß sie hie und da überarbeitet und daß kleinere Fehler korrigiert und Doppelungen, soweit mir das angebracht schien, gestrichen wurden.
Manch ein Leser mag sich aber fragen, wieso er in einem Fußballbuch über Vorfälle aus dem Zeitraum zwischen 2007 und 2010 einen recht umfänglichen Anhang zu sonstigen Sportgeschehnissen findet, einen Anhang, in dem zum Teil »olle Kamellen«, wie der Verleger meint, herumgammeln. Ich sag’ mal so: Derjenige, der sich ausschließlich für Fußball interessiert, kann dieses Buch vor dem Anhang problemlos für abgeschlossen oder abgeschossen erklären, die Seiten des Anhangs herausrupfen und irgendeiner Verwertung zuführen. Derjenige, der den »Fußballbetrieb, diese große, laute Entertainmentmaschine« (Spiegel 53/2009), verzahnt wähnt oder weiß mit der noch größeren Entertainment- und Kapitalmaschine des allgemeinen Sport- und Medienbetriebs, mag eventuell doch einen Blick in jene Texte werfen, die sich mit winter- und sommersportlichen Absurditäten, mit der Formel 1 und mit dem generellen Wahnsinn auf dem Felde der Leibesübungen beschäftigen (und die partiell aus den Jahren vor 2007 stammen, was ihre mögliche Relevanz allerdings nicht oder nicht sonderlich berührt). Ich zumindest kenne nicht wenige Zeitgenossen, die den modernen Sport als Gesamtheit verstehen und über die Ränder der Fußballplätze hinausschauen.
Man kann es freilich mit dem Linguisten und Politaktivisten Noam Chomsky halten und bündig behaupten: »Sport ist dazu da, dumme Menschen aus der Politik fernzuhalten.« Da er aber nun einmal da ist (wie die dumme Religion und die eine oder andere systemische oder anthropologisch bedingte Verblendung mehr), darf man sich auch mit ihm befassen.
Ich widerspreche in diesem Punkt vorsichtig den klugen Anmerkungen von Andreas Rüttenauer in der taz vom 28. Dezember 2009. Unter der Überschrift »Kick, kick, hurra« legt Rüttenauer dar, daß der Fußball, der »von einer Sportart zum großen Gesellschaftsspiel mutiert« sei und dem Publikum »beinahe Tag für Tag als Superprodukt präsentiert wird«, auf Grund seiner medialen Vorrangstellung und anderweitiger Vorgänge sämtliche konkurrierenden Sportarten niedergewalzt oder verdrängt habe: »Tennis lag schon im Sterben, als das Jahrzehnt begann. Handball war nur kurz lebendig, eine Weltmeisterschaft lang. Der Radsport ist in Blutbeuteln ertrunken. Die Leichtathletik wurde in einem kalifornischen Chemielabor abgewickelt. Vor kurzem ist der Eisschnellauf an erhöhten Retikulozytenwerten eingegangen. Und wenn Magdalena Neuner bei den Olympischen Spielen genauso schlecht schießt wie im vergangenen Jahr, dann wird auch der Biathlonsport nicht mehr lange leben. Zum Ende der nuller Jahre steht fest: Deutschland ist keine Sportnation mehr. Es gibt nur noch Fußball.« Kurzum: »Das ist das sportliche Ergebnis des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend: Fußball, Fußball über alles, über alles in der Welt!«
Ich schätze die Lage etwas anders ein. Die Tour de France wird weiterhin ebenso weggeglotzt wie die komplette Palette der Wintersportdisziplinen, unvermindert weggeguckt werden Boxkämpfe, Michael Schumachers Renneinsätze, Leichtathletikveranstaltungen und meinetwegen Pokerrunden. Sollte Rüttenauer trotzdem richtigliegen, begreife ich den Anhang dann eben als kurze Chronik der Spätphase einer untergegangenen Sportepoche.
Wohlan, widmen wir uns also dem Fußball. Fürs erste.
Gerechtigkeit für Nürnberg
Wünschen würd’ ich den Marsch in die Verdammnis der zweiten Liga ja mindestens all diesen unleidlichen Berliner, Dortmunder, Hannoveraner und Wolfsburger Vereinen, aus vielerlei schwerwiegendsten Gründen und zumal der Tatsache wegen, daß sie allesamt schon allzulang unsere Augen beleidigen. Aber treffen wird es ja leider wieder die zugegebenermaßen dummen und doch braven Gladbacher, die Aachener und den FSV Mainz 05. Ein Großteil des Aachener Kaders ist halt eher dem Biertrinken als dem Training zugeneigt, und Kloppo vom Bruchweg freut sich bereits jetzt so sehr über ein ruhiges Fußballeben zwischen Augsburg und Jena, daß ihm sein Wunsch erfüllt werden möge. Würde aber allen Prognosen zum Trotz doch noch die Frankfurter Eintracht den »schweren Gang« (Sabine Töpperwien) ins Unterhaus antreten müssen, wäre das acht Jahre nach dem skandalösesten Abstieg der Fußballgeschichte, als der 1. FC Nürnberg am letzten Spieltag von Platz zwölf ins Bodenlose stürzte und die Eintracht die Klasse hielt, immerhin gerecht – würde meine Gewährsfrau in Fußballfachfragen, die Frankfurt-Fanatikerin Katja Thorwarth, dann auch wehklagen, daß einem das Herz erweicht.
Allerschlimmste Irreführung
»Ich glaube, wenn man den Fußball zur Professorenarbeit macht, verliert man seine Wurzeln.« Diesen Satz von Lothar Matthäus stellen Jürgen Mittag und Jörg-Uwe Nieland dem Vorwort des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes Das Spiel mit dem Fußball – Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen (Essen 2007) als Motto voran – sei es gewissermaßen entschuldigend gemeint, sei es, um zu signalisieren, sich der gängigen Reserviertheit gegenüber einer unterdessen umfänglichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Fußball bewußt zu sein.
Die insgesamt empfehlenswerte sechshundertseitige Anthologie, die den einzigen ubiquitären Massensport unter historischen, politischen, medien- und kulturtheoretischen sowie ökonomischen Aspekten in seiner Ganzheit darzustellen versucht, bestätigt mitunter die Bedenken des größten Mittelfranken aller Zeiten – etwa wenn das »ästhetische Potential des Fußballs« allzu uninspiriert synoptisch verhandelt und dann auch noch ein ahnungsloser Allschwätzer wie Peter Sloterdijk zustimmend zitiert wird. In solchen Momenten wird deutlich, daß die Fußballwissenschaft in eine Phase eingetreten ist,