Es gehört zu den Vorzügen der biografischen Studie von Jakob Saß, dass er die Vielgestaltigkeit und auch Widersprüchlichkeit der Person und des Handelns von Adolf Haas nicht interpretatorisch einebnet. Er hat für die Darstellung des Agierens von Adolf Haas in den Konzentrationslagern vor allem die Erinnerungsberichte von Überlebenden in beeindruckender Weise ausgewertet. Jakob Saß bezieht durchaus auch andere Quellen wie etwa die SS-interne Überlieferung in seine biografische Untersuchung mit ein, um einen multiperspektivischen Blick auf das Leben von Adolf Haas werfen zu können. Seine dominierende Perspektive ist aber, soweit es um die Rolle von Haas in den Konzentrationslagern geht, die der Häftlinge bzw. Überlebenden und so macht er gewissermaßen aus einer Quellennot eine historiografische Tugend. Nicht zuletzt diese Betonung der Perspektive der Verfolgten auch im Kontext der Täterforschung macht seine Studie auch für die Bildungsarbeit in den Gedenkstätten ausgesprochen hilfreich.
Dr. Thomas Rahe
Gedenkstätte Bergen-Belsen, Dezember 2018
Prolog: Der Vergessene – Warum noch ein „Nazi-Buch“?
Das beliebte Online-Spiel ist makaber, die Regeln aber denkbar einfach: Jemand lädt ein Foto hoch und wer die Identität der Person darauf errät, darf das nächste Bilderrätsel stellen. Ein endloses Spiel, bei dem die Spieler aus aller Welt seit mehr als zehn Jahren nicht die Lust verlieren. Bei ihrem Quiz geht es ausschließlich um Männer, meist in Schwarz-Weiß und in Uniform. Und noch etwas haben alle gemeinsam. Jeder von ihnen war Teil derselben Organisation – der wohl verbrecherischsten der Geschichte.
Seit 1999 tauschen sich militärhistorisch Interessierte in der internationalen Online-Community „Axis History Forum“ über die Geschichte der Achsenmächte (Axis Powers) im Zweiten Weltkrieg aus. Über Schlachten, Waffen, Einheiten, neue Archivfunde, vermisste Großväter, „Frauen im Dritten Reich“ und Hunderte andere Themen. Wer mitdiskutieren will, muss sich an die Forumsregeln halten: Hakenkreuze sind als Profilbild nicht erlaubt, dafür aber Symbole wie der SS-Totenkopf. Der ist in Deutschland verboten, im „Axis History Forum“ aber äußerst populär. Man toleriere außerdem keine Beleidigungen, keinen Rassismus und keine Posts, die den Holocaust leugnen oder den Nationalsozialismus, Faschismus oder eine andere totalitäre Diktatur glorifizieren. Eigentlich.
„Ich bin natürlich ein großer Experte für SS-Personal und für Foto-Identifikation“, schrieb der Hobbyhistoriker Max Williams auf Englisch und ohne Bescheidenheit am 3. Juni 2007 in das Forum.2 Er schlug ein makabres Spiel vor, bei dem die Männer der „Schutzstaffel“ im Mittelpunkt standen, Adolf Hitlers größtem Machtinstrument für Terror und Mord im „Dritten Reich“. Er nannte es „SS ID Quiz“. Der „Rätselspaß“ ist den Usern bis heute nicht vergangen, vor allem Max Williams nicht, der sein Quiz konkurrenzlos dominiert. Die Fotos auf den mittlerweile über 450 Forumsseiten zeigen meist hochrangige Offiziere aus der Waffen-SS, insbesondere von den Kampfverbänden – manchmal aber auch von den Wachmannschaften der Konzentrationslager. Schwierig wurde es, wenn die Männer keine SS-Uniform trugen.
Mit dem Bild eines jungen Mannes, Anfang 20, in einer Matrosenuniform taten sich die User im Juni 2017 besonders schwer (siehe Bild auf Seite 26). Nach zwei Tagen gab „J. Duncan“ zwei Hinweise: „Er backte, was Hitler liebend gern aß“ und „Ignoriert von Tom Segev”. Da stieg sogar der selbst ernannte SS-Experte Max Williams nicht gleich dahinter: „Kuchen? Ein Lagerkommandant? Verdammt, selbst die Hinweise sind Rätsel! Komm schon, sei gnädig“3 Gesucht war also ein Konditor, der in der SS bis zum Kommandanten eines Konzentrationslagers aufgestiegen war.
Der zweite Hinweis war etwas schwieriger zu entschlüsseln, musste man dafür das Buch des israelischen Historikers und Journalisten Tom Segev „Soldiers of Evil“ (1987, dt. 1988: „Die Soldaten des Bösen“) sehr aufmerksam gelesen haben – oder zumindest das Namensregister. Segev erzählt die Geschichte der Konzentrationslager mit den Geschichten der Männer, ohne die weder die Terrorherrschaft noch die Massenmorde möglich gewesen wären. Lange bevor sich in Deutschland eine eigene ernst zu nehmende Täterforschung etablierte, rekonstruierte Segev als junger Promotionsstudent mit bemerkenswerter Akribie, Geduld und Hartnäckigkeit in den 1970er-Jahren die Biografien von 36 KZ-Kommandanten mit Unterlagen des Berlin Document Centers (BDC), heute Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. „Die Personalakten liefern allerdings keine wohlfeile Antwort auf die Kardinalfrage der Geschichtsschreibung: ‚Wie konnte das alles passieren?‘“1, schreibt Segev im Vorwort. „Viele dieser Akten sagen uns jedoch, wie gewisse Leute, Nazis, SS-Männer, sich einverstanden erklärten, den Terror zu ihrem Beruf zu machen und wie es ihnen möglich war, den Mord an Millionen von Menschen als Teil ihrer täglichen Routine zu erledigen“.4 Er, der Sohn eines Juden, der 1933 mit seiner Frau aus Deutschland fliehen musste, befragte nicht nur Tausende von Akten nach den Motiven der Täter, sondern auch drei noch lebende Kommandanten und Angehörige der bereits verstorbenen. Zehn von insgesamt etwa 50 Lagerkommandanten5 kommen allerdings in Segevs Buch tatsächlich nicht vor, darunter der 2017 im „SS ID Quiz“ gesuchte Konditor und frühere Matrose. Dabei hatte sich der junge Historiker damals auch dessen Personalakte angeschaut und sie in seiner Dissertation auf fünf Seiten zusammengefasst – die hatte „J. Duncan“ offenbar aber nicht gelesen, als er seine beiden Hinweise postete.6
Erst nach drei Tagen löste der Slowake Machal alias „goofy“ das knifflige Rätsel im „Axis History Forum“. „Ich glaube, das ist Adolf Haas“, schrieb er und bekam einen lachenden Smiley als Antwort.
Schon zehn Jahre zuvor hatten andere Forums-Mitglieder Material zum KZ-Kommandanten Adolf Haas zusammengetragen.7 An seiner Biografie schien zunächst nichts besonders: Adolf Haas wurde am 14. November 1893 in Siegen geboren und wuchs in Hachenburg im Westerwald auf. Er machte die Ausbildung zum Konditor, ging in seiner Wehrdienstzeit zur Marine und geriet im Ersten Weltkrieg in Gefangenschaft. Nach seiner Rückkehr gründete er eine Familie und machte sich als Bäcker selbstständig. 1931 trat Haas in die NSDAP ein und 1932 oder 1933 – ganz sicher waren sich die User nicht – in die SS. Vor allem die Stationen seiner schnellen „Karriere“ in Heinrich Himmlers „Schwarzen Orden“ diskutierten sie ausgiebig, einschließlich der exakten Daten seiner Beförderungen: Bald war Adolf Haas seine Tätigkeit als SS-Führer wichtiger als seine Bäckerei. 1940 bewährte er sich als Zweiter Schutzhaftlagerführer im KZ Sachsenhausen und bekam kurz darauf das Kommando über sein erstes eigenes Lager in Niederhagen, am Fuß der Wewelsburg bei Paderborn. 1943 baute er sein zweites Konzentrationslager auf: Bergen-Belsen.
Warum sich Adolf Haas der NS-Bewegung angeschlossen hatte, wieso er sich für die SS entschieden hatte, an welchen Verbrechen er sich beteiligte, wie viele Menschen in seinen Lagern starben, was für ein Mensch er selbst war – all diese Fragen, die Tom Segev in seinem Buch gestellt hatte, spielten in der Diskussionsgruppe keine Rolle. Dort interessierte nicht der Mensch, sondern nur der „politische Soldat“ Adolf Haas. Nur die harten „Fakten“ zählten, von denen einige nicht stimmten: „Am 20. Dezember 1944 übernahm er die Führung des SS-Panzergrenadierbataillons 18. Haas gilt seit dem 1. Mai 1945 als vermißt.“8 Tatsächlich übernahm er nicht die „Führung“ des Bataillons und wurde auch nicht seit dem 1. Mai vermisst, sondern offiziell bereits seit Mitte März 1945. In einem anderen Kommentar hieß