Der gelernte Beruf hatte letztlich seinen Reiz verloren, spätestens seit 1934, als die SS immer größer und mächtiger wurde und ihm die Chance auf eine richtige Karriere mit weitaus besserem Einkommen bot. Die Bäckerschürze tauschte er daher wahrscheinlich ohne Wehmut endgültig gegen die SS-Uniform, als er Mitte des Jahres 1935 sein Geschäft aufgab. Die SS unterstützte ihn die nächsten Monate finanziell, bis sie ihn am 10. Oktober 1935 zum hauptamtlichen Führer ernannte.143 Als neuer SS-Führer des II. Sturmbannes in der 78. SS-Standarte im nahen Limburg (Lahn) und mit dem neuen Rang eines SS-Hauptsturmführers verdiente er mit 200 Reichsmark monatlich nun deutlich mehr als mit der Selbstständigkeit und auch mehr als der Reichsdurchschnitt, der 1935 bei etwa 140 Reichsmark lag.144 Innerhalb von drei Jahren sollte sich sein Gehalt sogar mehr als verdoppeln.145 Haas musste sich um seine Zukunft und die seiner Familie nicht mehr sorgen. Im Sommer 1932 war seine Mutter gestorben, im Juni 1933 hatte seine Frau aber ihren zweiten Sohn geboren. Solange er seinen Verpflichtungen bei der SS nachkam, hatten sie ausgesorgt. Was dazugehörte und was noch dazugehören würde, wusste er genau.
Am 7. September 1935 hatte die NSDAP-Ortsgruppe im Hotelrestaurant „Westend“ zu einer großen Propaganda-Kundgebung geladen – eine Pflichtveranstaltung für Haas‘ SS. Obwohl ihm das Etablissement einmal gehört und er als Stadtratsmitglied die NSDAP vertreten hatte, stand er selbst nicht auf der Rednerliste. Von der nationalsozialistischen Weltanschauung war er laut einem Vorgesetzten zwar „vollkommen durchdrungen“, für öffentliche politische Reden reichten seine rhetorischen Fähigkeiten aber nicht aus.146 Als Zuhörer konnte er sich immerhin damit rühmen, tatkräftig bei den angesprochenen „Erfolgen“ mitgewirkt zu haben. Diese müssten aber hart verteidigt werden, skandierte ein Sprecher: „Staatsfeinde und Dunkelmänner stören unter der Tarnung von konfessionellen und anderen Verbänden die Aufbauarbeit des Nationalsozialismus, es geht um Sein und Nichtsein des deutschen Volkes.“ Gerade aber das Judentum müsse besonders bekämpft werden, da es viel Unheil über Deutschland gebracht habe. Am Ende schwor der Redner alle auf Adolf Hitler ein und endete mit den eindeutigen Worten: „Der Kampf geht unvermindert weiter, bis zur völligen Lösung.“147 Zwar sprachen die Nationalsozialisten erst seit Beginn der 1940er-Jahre von der „Endlösung der Judenfrage“, womit sie noch die staatlich organisierte Vertreibung der Juden meinten – erst mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 und spätestens nach der Wannsee-Konferenz 1942 etablierte sich die „Endlösung“ als Tarnbegriff für den Massenmord an den europäischen Juden.148 Nichtsdestotrotz war der Wesensgehalt von der „völligen Lösung“ in der Rede auf der NSDAP-Kundgebung 1935 unmissverständlich radikal und allen Beteiligten klar.
Wer sich nicht mehr fähig fühlte, in der SS dem Regime zu dienen, konnte bis Kriegsbeginn jederzeit um eine „ehrenvolle“ Entlassung bitten. Sie hatte keine negativen Folgen und Tausende nutzten diese Möglichkeit.149 Doch weder Reue vor den begangenen Taten noch Furcht vor zukünftigen „Verpflichtungen“ drängten Adolf Haas, die SS zu verlassen. Im Gegenteil: Er half weiterhin bei der Verfolgung und Ausgrenzung von Juden und anderen „Staatsfeinden“, seit April 1936 vor allem in Wiesbaden, wo er den I. Sturmbann der 78. SS-Standarte übernahm. Seine Familie begleitete ihn zum neuen Dienstort. Mit seiner Frau, seiner neunjährigen Tochter und seinem zweijährigen Sohn zog er Mitte April in die Villa seiner SS-Standarte in der Walkmühlstraße 31. Wenige Tage später kam seine zweite Tochter zur Welt.150
Die nationalsozialistische Weltanschauung habe er „sehr gut mit Herz und Verstand“ verinnerlicht und sein Wille sei „fest und rücksichtslos gegen sich und andere“, schrieben seine Vorgesetzten ohne Beschönigungen in einem Bericht vom Juni 1936. Haas sei ein „guter Kamerad“, aber auch ein „Draufgänger“, „gerade, derb, leicht erregbar und zornig“ – genau die Eigenschaften, die ihn für seine späteren Aufgaben qualifizierten.151 Man war zufrieden mit ihm und beförderte den „treuen und pflichteifrigen SS-Führer“ am 13. September 1936 zum Sturmbannführer.152 Damit war er in die Dienstgruppe der Stabsoffiziere aufgestiegen, vergleichbar mit einem Major der Wehrmacht. Sein neuer Kragenspiegel – links das Emblem der SS, die Siegrune, rechts ein Abzeichen mit vier kleinen Rechtecken – zeigte jedem seinen Rang, war aber auch ein Zeichen für seinen raschen Aufstieg. Weiter nach oben ging es auf der Karriereleiter aber zunächst nicht mehr.
2.5 Der Überschätzte: Karrierestillstand und mangelhafte Leistungen in der „SS-Führerschule Dachau“, 1937
Im Frühjahr 1937, als seine erste Tochter mit zehn Jahren beim Jungmädelbund aufgenommen wurde, versetzte man den Familienvater von Wiesbaden nach Westerburg, etwa 15 Kilometer südöstlich von Hachenburg. In Westerburg sollte Haas ab dem 10. März den Führer des III. Sturmbanns der 78. Standarte ablösen, der beruflich genau die entgegengesetzte Entscheidung getroffen hatte. Er könne den Sturmbann nicht mehr führen, weil er „beruflich verhindert“ sei, und habe deswegen „um seine Enthebung gebeten“.153 Er entschied sich damit für seinen Beruf und gegen eine „Karriere“ in der SS – für Haas war das keine Option.
In seinem neuen Amtsgebiet griff Sturmbannführer Haas durch, im Sommer 1937 aber zunächst bei seinen eigenen Männern. Die katholische Gemeinde hatte im benachbarten Betzdorf, etwa 18 Kilometer nördlich von Hachenburg, eine Prozession durch die Straßen organisiert, bei der auch einige SS-Männer mitgelaufen waren. Das wurde im „Schwarzen Orden“ gar nicht gern gesehen, deren Führer die Kirche sowohl institutionell als auch moralisch als Konkurrenten sahen. Das machte auch das „Schwarze Korps“, das kirchenfeindliche Kampf- und Werbeblatt der SS, regelmäßig deutlich. Ob sie es denn nicht gelesen hätten, fragte Adolf Haas die SS-Männer, als er sie im Juli zu ihrer Teilnahme an der Prozession vernahm. „Weltanschaulich sind dieselben garnicht in Ordnung“, meldete Haas nach seinen ersten Verhören.154 „Zu retten ist an diesen nichts mehr.“ Seiner Meinung nach könne hier in dem betreffenden SS-Sturm nur „die rücksichtslose Ausmerzung aller schädlichen Elemente wieder Ordnung schaffen“. Nach vier weiteren Verhören empfahl er, zwei der SS-Männer, die „nicht mehr tragbar“ seien, aus der SS auszuschließen. Bei den anderen zwei schlug er vor, sie „gelinder zu bestrafen, da diese Beiden noch zu brauchbaren SS-Männern erzogen werden können bezw. nur unüberlegt oder aus Rücksicht auf die Angehörigen an der Veranstaltung teilgenommen haben“. Einer von ihnen hatte überzeugend behauptet, er habe sich längst über die Kirche „die richtige, nämlich nationalsozialistische Vorstellung darüber gemacht“ und sogar „meine Braut“ von „dem kath. Glauben fortgebracht“. So vorbildlich war nicht einmal sein vorgesetzter SS-Führer. Noch im August 1937 gab Adolf Haas an, er sei „evangelischer Konfession“.155 Erst seit Jahresende antwortete er auf die „Gretchenfrage“ mit „gottgläubig“, so wie es der Reichsführer-SS seit November 1936 wünschte, und überzeugte auch seine Frau, aus der evangelischen Kirche auszutreten.156
Trotz seiner Mühen um die „rücksichtslose Ausmerzung aller schädlichen Elemente“ in der Allgemeinen SS, war die neue Stelle in Westerburg eine Sackgasse. Drei Jahre lang blieb Adolf Haas ohne Beförderungen. Seine „Karriere“, die so gut und schnell begonnen hatte, kam zum Stillstand. Wieso ?
Auf einem Sportlehrgang des SS-Oberabschnitts Rhein am 21. September 1937 erwarb er das SA-Sportabzeichen in Silber und damit auch automatisch die Prüfberechtigung für seinen Sturmbann.157 Besonders stolz konnte er darauf jedoch nicht sein. Das SA-Sportabzeichen galt in der SS als verhältnismäßig einfach, zumal es in der SA sogar Pflicht war. Bereits 1935 hatte Heinrich Himmler den dringenden Wunsch geäußert, jeder SS-Mann unter 50 Jahren solle diese Prüfung absolvieren, die natürlich vor allem vormilitärischen Charakter hatte. Ein paar Wochen nach dem Lehrgang notierten