2.3 Der Erpresser: Habsucht und Haft, 1934
Im Juli 1934 wurden Haas und drei weitere Personen aus Hachenburg und Westerburg der „räuberischen Erpressung“ beschuldigt. Ihr Opfer war Karl Grünebaum aus Nierstein bei Mainz, ein jüdischer Tuchhändler, der bis 1932 ein „Manufaktur- und Ausstattungsgeschäft“ betrieben hatte.126 Zwei der Angeklagten waren ebenfalls Textil- und Modeunternehmer: Paula Fröhlich war die erfolgreiche Inhaberin des „Berliner Kaufhauses“, einer Manufakturwarenhandlung in Hachenburg, und bereicherte sich später auch bei den Arisierungen jüdischer Geschäfte.127 Gustav Seekatz führte zu der Zeit unter seinem Namen ein Mode-Kaufhaus im nahen Westerburg.128 Ob aus Neid und Missgunst gegen ihren früheren jüdischen Konkurrenten oder um ihn auch für die Zukunft auszuschalten, Seekatz und Fröhlich schienen es gezielt auf Karl Grünebaum abgesehen zu haben. Gern behilflich waren ein Sturmbannführer der SA aus Westerburg sowie SS-Truppführer Adolf Haas, der die Möglichkeit sah, ein gutes Sümmchen zu erpressen. Offiziell natürlich für seinen SS-Sturm.
In Nierstein hatte die Mehrheit der Stadtbevölkerung nach Hitlers „Machtübernahme“ begonnen, die kleine jüdische Minderheit von etwa 80 Personen auszugrenzen. Sie hatten daher auch nicht eingegriffen, als Karl Grünebaum am 12. August 1933 von SA-Männern aus Westerburg überfallen worden war. Sie könnten ihn sofort verhaften und in das nahe gelegene Konzentrationslager Osthofen bei Worms bringen, hatten sie ihm gedroht – oder er könnte sich freikaufen. Grünebaum hatte nachgegeben, seinen Erpressern 100 Reichsmark in bar gezahlt und ihnen einen Schuldschein von 1500 Reichsmark ausgestellt, was damals einem Durchschnittseinkommen eines ganzen Jahres entsprach.129 Die Nazis hatten ihn trotzdem nicht in Ruhe gelassen. Es hatte sich herumgesprochen, dass er sich erpressen ließ: Am 28. September 1933 entführten Adolf Haas und andere SS-Männer Grünebaum ein zweites Mal. Nicht gerade kreativ drohten sie, wie schon die SA, ihn in das KZ Osthofen zu verschleppen, forderten aber dreist eine weitaus höhere Summe. Schließlich stellte ihnen der Erpresste einen Scheck von 2700 Reichsmark aus. Damit die Beteiligung der SA und SS nicht offensichtlich wurde, löste die Kaufhausinhaberin Paula Fröhlich die Schecks ein und verteilte das Geld. An wen und welche Summen, konnte der zuständige Untersuchungsrichter in Mainz 1934 nicht genau klären, nachdem Karl Grünebaum Anzeige erstattet hatte. Da der Richter aber annahm, dass die Beschuldigten fluchtverdächtig waren und „Spuren der Tat vernichtet und Zeugen und Mitschuldige zu einer falschen Aussage verleitet werden“, unterzeichnete er am 16. Juli 1934 einen Haftbefehl.130
Zwei Tage später wurden Haas und seine Komplizen von einem SS-Kameraden dem Landgerichtsgefängnis Mainz übergeben. Sie sollten unbedingt getrennt voneinander gehalten werden, damit sie sich nicht weiter absprechen könnten, „die Geschehnisse nach einer gewissen Richtung darzustellen und damit ihre Aufklärung zu verhindern“.131 Trotz der Tatbestände waren die Insassen guten Mutes. Der SA-Sturmbannführer aus Westerburg schrieb seiner Frau, er habe ein „reines Gewissen“, er werde bald dem Untersuchungsrichter vorgeführt und „dann wird sich alles klären“.132 Sorgen machte er sich vielmehr um die Obsternte, bei der er nicht helfen konnte. Paula Fröhlich schrieb dagegen in höchster Erregung einen vier Seiten langen Brief an ihren gemeinsamen Rechtsanwalt. Sie leide unter Herzproblemen und hohem Blutdruck, habe auf dem harten Eisenbett „noch keine Nacht geschlafen“ und sei ohnehin vollkommen „schuldlos“, klagte sie. 133 Die 55-Jährige beteuerte zudem, sie habe geglaubt, Karl Grünebaum habe freiwillig das Geld abgetreten. Davon habe sie aber „keinen Pfennig“ für sich behalten, sondern alles an die SS, SA, das Winterhilfswerk oder an Adolf Haas überwiesen. „Herr Haas konnte mit dem Gelde machen was er wollte.“ Sie hoffte auf die Nachsicht des Regimes, das sie von Anfang an unterstützt habe, und unterschrieb am Ende „mit deutschem Gruß“. Mit Erfolg: Wohl auf Druck nationalsozialistischer Beamter waren alle Angeklagten Ende Juli 1934, nur wenige Tage nach ihrer Einweisung, wieder auf freiem Fuß. Auch wenn keine Prozessakten überliefert sind, scheint der Fall geschlossen worden zu sein. Karl Grünebaum hat sein Geld höchstwahrscheinlich nie wiedergesehen. In Nazi-Deutschland konnten jüdische Bürger nicht mehr auf Gerechtigkeit hoffen, egal welche Beweise vorlagen. Seine Familie wanderte 1938 in die USA aus. Was mit Grünebaum selbst geschah, ist unklar.134
Die Täter blieben nicht nur unbestraft, sie konnten sich mit ihrer Zeit in Untersuchungshaft sogar noch rühmen. 1936 vermerkte Adolf Haas in einem Personalbericht unter „Verletzungen, Verfolgungen und Strafen im Kampfe für die Bewegung“: „Verhaftung 14 Tage wegen Anzeige eines Juden“ – tatsächlich waren es gerade einmal zehn Tage.135 In Zukunft musste er nicht einmal befürchten, für Erpressungen und andere Aktionen gegen Juden überhaupt belangt zu werden. Am 2. August 1934 starb Reichspräsident Paul von Hindenburg. Hitler übernahm nun auch dieses Amt und regierte fortan als „Führer und Reichskanzler“ – tatkräftig unterstützt von seiner treuen „Schutzstaffel“, die, losgelöst von der SA, immer mächtiger wurde.
2.4 Der hauptamtliche SS-Führer: Weg mit der Bäckerschürze, rein in die Uniform, 1934–1937
Die Mörder wurden belohnt: Himmler und seine SS hatten sich im Sommer 1934 bedingungslos loyal gegenüber ihrem „Führer“ gezeigt, als sie für ihn die Führungsspitze der SA und andere Gegner eliminierten. Ende August 1934 erhob Hitler seinen Reichsführer-SS zu einem „Reichsleiter der NSDAP“, der nur noch ihm selbst unterstand. Himmler war bereits seit Frühjahr 1933 Polizeipräsident von München und Chef der politischen Polizei Bayerns sowie seit April 1934 Leiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Berlin. In den nächsten Jahren baute er seine Machtstellung und die seiner „Elitetruppe“ immer weiter aus. Nun hatte er auch Budget für mehr hauptamtliche Stellen.
Auf Adolf Haas‘ Karriere hatte der Kurzaufenthalt hinter Gittern im Juli 1934 keinerlei Einfluss. 1935 wurde er gleich zweimal befördert: am 20. April, anlässlich des „Führergeburtstages“, zum Obersturmführer und am 15. September zum Hauptsturmführer – wiederum mit äußerst lobenden Beurteilungen. Er sei „der beste Sturmführer der Standarte“, pries ihn der Führer seines SS-Abschnitts im Juli 1935.136 Wenn es nach ihm ginge, sollte Haas sogar ab August seinen eigenen Sturmbann führen, der zwischen 250 und 600 Mann stark sein konnte. Seit zwei Jahren musste er sich so auf seinen ehrenamtlichen Dienst bei der SS konzentriert haben, dass er dabei völlig sein eigenes Geschäft vernachlässigt hatte.
Kurz nach der „Machtübernahme“ 1933 hatte Haas bereits geklagt, dass seine Bäckerei „durch meine Parteizugehörigkeit der NSDAP sehr schlecht ging“.137 1935 bezeichnete er sich als „erwerbslos“, da er angeblich ein Opfer eines Boykotts geworden war.138 Seine Vorgesetzten vermerkten zu seinen „wirtschaftlichen Verhältnissen“: „Die Bäckerei geht sehr schlecht, da Haas wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP boykottiert worden ist. Die dieserhalb abgesprungen Kunden sind auch noch nicht zurückgekommen.“139 „Viele ‚alte Kämpfer‘ der Partei klagten darüber, dass sie wegen ihres Einsatzes für die Hitler-Bewegung wirtschaftliche Nachteile hätten in Kauf nehmen müssen“, schreibt der Historiker Sven Felix Kellerhoff. „Das traf gelegentlich zu, oft dürfte es sich aber um eine bequeme Entschuldigung für das eigene Scheitern gehandelt haben.“140 Sicherlich kauften keine SPD- und KPD-Anhänger mehr ihre Brötchen bei Adolf Haas. Die Mehrheit der Hachenburger hatte der nationalsozialistischen Bewegung aber bereits vor 1933 sehr wohlwollend gegenübergestanden. Ein Boykott eines nicht jüdischen Bäckers, der Mitglied der NSDAP und SS war, erscheint daher unwahrscheinlich. Noch unglaubwürdiger wird die Behauptung, wenn Haas mit dem „Boykott“ paradoxerweise die Bürger jüdischen Glaubens beschuldigte. Die jüdische Gemeinschaft hatte zwar in Hachenburg eine jahrhundertealte Tradition, aber gerade einmal 75 Mitglieder