Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv. Wiglaf Droste. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wiglaf Droste
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862871032
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einmal ihrem Amtsvorgänger Dieter Althaus begegnen sollte?

      Der letzte Eintrag stammte vom 14. Februar 2012. Ulrich Kienzle, Autor von »Abschied von 1001 Nacht. Mein Versuch, die Araber zu verstehen«, hatte »Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit!« notiert und ergänzt: »Bedenkenswertes arabisches Sprichwort«.

      Stimmt das? Viele Araber, die ich bisher traf, fielen nicht nur durch reichlich Ringe und Goldkettchen satt auf, sondern auch durch nicht minder gut sichtbare Armbanduhren. Aber vielleicht war das Sprichwort schon älter und bezog sich auf Sand-, Wasser- und Blumenuhren? Oder hatte Kienzle sich vertan und eigentlich schreiben wollen: Ihr habt die Huren, wir haben nie Zeit?

      Im Gothaer Gästebuch fand sich keine Lösung für das arabische Frühlingsrätsel, nur noch leere weiße Seiten folgten und strahlten mich an. Ich war an der Reihe, ich musste die Fackel, die Chris de Burgh entzündet und an so viele Persönlichkeiten weitergereicht hatte, in die Hand nehmen und mit Würde tragen. Und so schrieb auch ich ein bedenkenswertes arabisches Sprichwort ins Gästebuch:

      »Es ist die Heilige Pflicht jedes Rechtgläubischen, die Welt mit radioaktiv angereichertem Koran zu belästigen und ihr mit Vernichtung zu drohen«, und dann unterschrieb ich als »Mammut Assassine Dschihad, Präsident des Uran«.

      Ich bin gespannt, was der nächste Gast im Hotel am Schlosspark in Gotha darauf geantwortet haben wird.

      Schwul mit sechs Jahren

      »Ich will schwul werden«, sagte der sechsjährige Sohn eines Freundes mit jener kindlichen Entschiedenheit, die sich stündlich auf ein anderes Ziel richten kann und gerade deshalb immer vollkommen ernst gemeint und ernst zu nehmen ist.

      »Ah ja«, gab ich einigermaßen vage zurück, um den Knaben nicht zu unterbrechen, und er ließ mich auch gleich munter wissen, wie sein schwules Leben Gestalt annehmen werde: Mädchen seien eher blöd, er ziehe es vor, mit seinen Freunden zu spielen, mit Rennautos und Dinosauriern, Tim und Struppi seien auch gut, aber Pis­tolen wären natürlich das Allergrößte, vor allem, wenn man im Wald richtig schön herumtoben könne, ohne Erwachsene, die immer bloß Schiss hätten.

      »Is’ klar«, warf ich kurz und leise ein; wenn man einem originären Denker zuhört, soll man nicht dazwischenquatschen, sondern ihn nur ermuntern. Das schwule Wunschleben des Sechsjährigen breitete sich vor mir aus; es war die verblüffendste, rauhbeinigste und dabei gutmütigste Definition von Homosexualität, die ich je gehört hatte, randvoll mit reinherziger Freundschaft, astreinen Abenteuern und Gefahren, zing, zang, zong! Ich war sehr einverstanden und verlieh meiner Affirmation Ausdruck. Einem guten Mann soll man keine Steine in den Weg legen.

      Anderntags kam der Junge recht geknickt aus der Schule zurück. Er hatte ein Veilchen und sah auch sonst ziemlich zerdötscht aus. Was denn passiert sei, fragte ich ihn. Nach kurzem Zögern sprudelte die Geschichte aus ihm heraus: Er habe seinen beiden besten Schulfreunden von seinem Plan erzählt, schwul zu werden, aber bevor er seine Ideen näher habe ausführen und präzisieren können, hätten sie ihn schon vermöbelt. Der eine, ein Sohn indischer Eltern, habe ihm ein blaues Auge gehauen, und der andere, kosovarischer Herkunft, habe ihn mehrfach getreten.

      »Ich will nicht mehr schwul werden«, verkündete der Junge fest. »Man kann ja auch so mit Autos spielen.« Da war etwas dran. Integration, also die Balance der Kräfteverhältnisse, ist auch ein anderes Wort für Lektion; besonders interessant daran ist immer, wer wem wann welche erteilt oder erteilen darf, welches Regelwerk dabei gilt und wer es definiert und bestimmt.

      Der Junge ging in sein Zimmer. Während ich mich wieder der Zubereitung des Essens widmete, hörte ich ihn seine Spielzeugpistolen abfeuern und war ein kleines bisschen neidisch.

      Rot lackiert

      Eine Begriffsverteidigung

      Wann und wo immer die Formulierung »rot lackiert« auftaucht, wird sie automatistisch durch das Wort »Faschisten« ergänzt. »Rot lackierte Faschisten« ist ursprünglich ein Schmähbegriff gegen Kommunisten, der auf den Sozialdemokraten Kurt Schumacher zurückgeht. Helmut Kohl brachte ihn dann gegen die PDS in Stellung, und zahllose Nachplapperer machten aus den »rot lackierten Faschisten« so lange ein Wort von der Geflügelfarm, dass sogar der NPD-Fraktionsvorsitzende im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern Udo Pastörs den Rotlackfaschismusvorwurf erhob.

      »Sie sind nicht besser als die links- oder rotlackierten Faschisten auf der linken Seite hier in diesem sogenannten hohen Hause«, rief Pastörs Ende Januar 2011 den Mitgliedern der CDU-Fraktion zu, und das ist schon auch lustig, wenn ein Nazifunktionär das schwingt, was in Deutschland mittlerweile »Faschismuskeule« genannt wird. Nur die Nazis können die Welt noch vor dem Faschismus retten; sie verstehen schließlich am meisten davon.

      Ich denke bei »rot lackiert« nicht an Faschisten, sondern an Fußnägel. Seit ich denken kann, hat mich der Anblick rot lackierter Frauenfußnägel begeistert; die kirschrot glänzenden Nupsis sind hinreißend. Ich muss etwa fünf Jahre alt gewesen sein, als mich ihr Anblick zum ersten Mal schwindelig machte.

      Es war Mitte der 1960er Jahre in Bad Oeynhausen. In dem alles andere als betuchten Fünfpersonenhaushalt, in dem ich aufwuchs, war ein Budget für Nagellack nicht vorgesehen. Das war bei den Wohnungsnachbarn offenbar anders. Herr Richartz arbeitete als Fotograf, und seine Frau war sein Lieblingsmodell. Sie war groß, schlank, elegant, hatte langes blondes Haar, ließ im Sommer lange, sonnengebräunte Beine sehen, trug hochhackige, luftige Sandalen und hatte rot lackierte Fußnägel.

      Der Anblick dieser schönen Frau, der ich noch nicht einmal bis zum Nabel reichte, machte mich schier wahnsinnig. Mit ihrem Sohn, der etwas älter war als ich, war ich gar nicht sonderlich befreundet, aber ich klingelte dauernd an der Nachbarstür, angeblich, um mit Thomas zu spielen, aber das war sowas von gelogen. Ich wollte nur seine Mutter sehen, möglichst in einem kurzen Kleid oder Rock, und, bitte!, mit diesen rot lackierten Fußnägeln.

      Ich war verliebt, und mein Begehren war nicht platonisch. Das Wort Sex hatte ich mit fünf Jahren noch nicht gehört und hatte von nichts eine Ahnung, aber dass sich in und an mir etwas regte, war nur zu deutlich spürbar. Die magisch glänzenden rot lackierten Fußnägel entfalteten heftige Wirkungen, doch mein heimliches Verlangen wurde nicht erhört. Der von allen Kindern verabscheute, weil sie vom wahren Leben ausschließende Satz »Dafür bist du noch zu klein« traf hier in jeder Beziehung zu.

      Etwas später ging ich mit einem gleichaltrigen Nachbarsmädchen auf Entdeckungsreise, wir waren beide neugierig und zeigten uns gegenseitig alles. Dass sie sich nicht die Nägel lackierte, störte mich überhaupt nicht. Aber wann immer ich Frau Richartz im Treppenhaus begegnete und sie von Kopf bis zu den Füßen betrachtete, fuhr es mir gewaltig ein.

      Dann zog meine Familie fort von Bad Oeynhausen, ich dachte nicht mehr an die schöne Nachbarin, aber als ich, viele Jahre später und vom Kind zum jungen Mann herangewachsen, eine schöne Frau mit rot lackierten Fußnägeln im Café sitzen sah, wusste ich schlagartig, dass ich nichts vergessen hatte.

      Bis heute denke ich bei den Worten »rot lackiert« nicht an blöde Faschisten, sondern an etwas Schönes, Aufregendes und noch immer Verheißungsvolles. Und an einen Jungen, dessen Gefühlslage ich heute so beschreiben würde:

      So steht man da, fünfjährig unschuldig,

      in seiner Unterhose einen Steifen,

      und lernt, nicht ohne Seelenschmerz:

      Zum Mann muss man erst reifen.

      Ein Freizeichenton von Vodafone

      »Neiiin! Igitt! Das ist ja ekelhaft!« Die Frau einen halben Meter vor mir auf dem Bürgersteig hält abrupt in der Vorwärtsbewegung inne, starrt ihr Taschentelefon an und zeigt es dann ihrer Begleiterin. »Kuck dir das an! Wollen die mich quälen?« Die beiden bleiben stehen, ich tue es ihnen notgedrungen gleich, sie haben die Kleinelektronik im Blick, und die Besitzerin des Taschentelefons liest laut vor:

      »Lieber Vodafone-Kunde, wir sagen Danke und schenken Ihnen einen Freizeichenton. Einfach nur, weil Sie es sind. Statt des normalen ›Tuut-tuut‹ hören Ihre Anrufer den Song ›Wenn Worte meine Sprache wären‹ von Tim Bendzko.«

      Sie