Die Jagd geht über zwei Tage und Nächte. Sie sind beharrlich. Sie weiten den Radius aus und geben solange keine Ruhe, bis sie mit der Ausbeute zufrieden sind. Am Morgen des dritten Tages lassen sie die Kadaver in eine Felsspalte fallen – acht ausgewachsene Wildschweine mit ihrer Brut. Danach herrscht Ruhe.
Einer kundschaftet die Gegend aus und stellt den Zeitplan auf.
Einer kümmert sich um die Ausrüstung und das Fahrzeug.
Einer kontrolliert die Umgebung und die Nachbarn.
Einer hält die Fäden in der Hand, wägt das Risiko ab und sagt, wann es soweit ist.
Sie haben ihre Beute über einen Zeitraum von vier Monaten beobachtet. Jeder einzelne von ihnen muß seine Zustimmung geben. Zweifel sind dabei sehr wichtig. Nichts darf sich ihnen in den Weg stellen, die Planung muß perfekt und jeder Schritt durchdacht sein.
Jetzt muß nur noch der Winter kommen.
Es ist vor vier Jahren, und der erste Schnee stürzt gegen Mitternacht so schnell vom Himmel, daß die Stadt innerhalb weniger Stunden von einem angenehmen Schweigen umschlossen ist. Der Junge heißt Linus Holm und ist sehr zufrieden mit der Kälte. Er hat beschlossen, in diesem Winter so lange Rad zu fahren, bis es nicht mehr geht. Seine Freunde haben untereinander Wetten abgeschlossen, wie lange er durchhalten werde; seine Eltern halten ihn für verrückt. Linus weiß, daß der Schnee sein Freund ist.
Am Morgen gleitet er auf seinem Fahrrad durch die Straßen und fühlt sich wie ein Entdecker. Er ist zehn Jahre alt und lebt mit seiner Familie in einer Kleinstadt südlich von Bremen. Am Nachmittag verläßt er die Schule und fährt auf Umwegen nach Hause. Seine Reifen schnurren durch die dünne Schneedecke und hinterlassen eine nervöse Spur. Zu Hause lehnt er das Rad an die Fassade und betritt die Küche durch den Seiteneingang. Langsam taut sein Gesicht auf, und die Fingerspitzen prickeln. Er nimmt Cornflakes aus dem Regal, füllt eine Schale und begießt die Cornflakes mit Milch und Ahornsirup.
Als seine Eltern nachhause kommen, steht die Schale auf dem Tisch, und die Cornflakes haben die Milch aufgesogen, so daß kein Tropfen übriggeblieben ist. Sie finden keine Spur von ihrem Sohn. Sein Fahrrad lehnt an der Hauswand, sein Zimmer ist verlassen, der Hausschlüssel liegt neben dem Eingang auf dem Beistelltisch. Um die Stiefel herum hat sich eine Pfütze gebildet.
Die Eltern wissen es nicht, aber sie werden den Jungen nie mehr wiedersehen. Nach einem halben Jahr werden sie das Fahrrad in die Garage stellen. Die Zeit wird sie mit sich reißen, sie werden versuchen, ein zweites Kind zu bekommen, sie werden sich alle Mühe geben, ihr Leben so zu führen, als könnte ihr Sohn jeden Moment durch die Tür treten. Kein Tag wird vergehen, an dem sie nicht auf seine Rückkehr warten. Ihre Liebe wird sie zusammenschmieden. Liebe und Hoffnung. Denn mehr bleibt einem nicht, wenn es draußen Nacht wird und die Lichter eines nach dem anderen verlöschen.
ICH
1
Liebe ist, wenn du die bedeutenden Momente deines Lebens mit einem Messer aus deiner Erinnerung schneidest, mit Benzin übergießt und anzündest. Liebe ist, wenn du dich am nächsten Morgen an jede Einzelheit erinnerst und nichts bedauerst. Liebe ist auch, wenn ein Schatten über dein Leben fällt und die Finsternis mit sich bringt und du weiterhin daran glaubst, daß es eines Tages wieder hell wird. Nenn den Schatten Hass, nenn ihn Vernichtung, nenn ihn das Ende der Welt. Hass ist Wut auf Liebe, Hass ist Wut auf diese widerstandsfähigen Details, die sich in deiner Erinnerung entzünden wie eiternde Wunden. Hass ist aber auch das, was dir bleibt, wenn dir alles andere genommen wurde. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe es getan. Ich habe die Liebe angezündet und seziert. Ich habe mich von den Schatten umschließen lassen und lebe in der Finsternis. Nur die Narben sind mir geblieben, und die Narben sind überall.
Ich wünschte, ich wäre jemand, der vergißt, der vergibt. Ich bin ein Mann in einem Pub mit anderen Männern an einem Tisch. Einer von ihnen. Nacht für Nacht. Das Fensterglas ist getönt, deswegen herrscht hier immer ein Gefühl von Abenddämmerung. Wer in dieser Kneipe sitzt, will den Tag vergessen, aber so einfach ist das nicht. Denn da ist noch die Nacht. Und die Nacht findet kein Ende.
Wir sitzen am Tisch, ich habe mein Geständnis abgelegt, und die Männer haben meine Verzweiflung gesehen. Sie wissen jetzt, mit wem sie es zu tun haben. Meine Erleichterung ist rein körperlich, der Verstand ist vorsichtig und will es noch nicht wahrhaben. Ich rede ihm gut zu. All die Monate der Vorbereitung. Geschafft, es ist geschafft. Ich weiß, daß ich nach Schweiß stinke. Panik und Furcht. Ich weiß es. Aber es stört nicht, denn es ist geschafft.
Sie schicken mich weg. Sie sagen, der Abend wäre für mich gelaufen, ich solle mich entspannen und eine Dusche nehmen.
Sie sagen: Alles ist gut, Mika.
Sie sagen: Mach dir keinen Kopf, Mika, wir reden morgen.
Sie sagen: Schlaf dich aus.
Ich nicke zu ihren Worten und nehme meine Panik und meinen Gestank und gehe nach Hause. Mein Herz lacht bei jedem Schritt, mein Herz lacht so laut, daß es im Körper hallt, als hätte mir Gott eine gescheuert. Ich vibriere. Es ist geschafft.
Gegen halb zwei schließe ich die Haustür auf und höre die Stimmen aus der Küche.
– Aber er vermißt dich.
– Kleines, ich vermisse ihn doch auch, aber wir halten es nicht mehr miteinander aus. Du weißt, es geht ihm nicht gut.
– Papa geht es gut.
– Nein, ihm geht es nicht gut. Schau dich doch mal um, wie es hier aussieht. Dein Vater ist nicht mehr wirklich dein Vater.
– Sag sowas nicht. Es wird ihm bald besser gehen.
– Ich wünschte, es wäre so.
Die Stimme meiner Tochter wird schrill:
– Mama, bitte, sag sowas nicht!
– Es tut mir leid.
– Liebst du ihn denn gar nicht mehr?
Schweigen. Die Antwort kommt zögerlich.
– Du weißt, daß ich ihn liebe. Ich werde ihn immer lieben.
– Warum hilfst du ihm dann nicht?
– Ich habe es doch versucht, Kleines.
Für einen Moment überlege ich zu gehen. Ich fürchte mich vor einer Konfrontation. Dann schließe ich lautlos die Haustür hinter mir und streife die Schuhe ab. Die Sehnsucht ist zu groß. Ich mache zwei Schritte durch den Flur. Ich will sie sehen, ich will sie berühren und mit ihnen reden. Und bleibe stehen. Die Feigheit ist größer. Ich kann die Küche nicht betreten, denn ich gehöre nicht mehr dazu. Also lehne ich mich gegen die Wand und rutsche an ihr herunter, Arme um die Knie, Knie an der Brust. So lausche ich weiter. Meine Frau lügt nicht, sie hat es versucht. Meine Tochter sagt:
– Er hinterläßt mir diese Nachrichten. Er gibt nicht auf. Schau, hier, lies das. Was soll ich ihm darauf antworten? Wenn er dann nach Hause kommt, zerknüllt er sie. Der Papierkorb ist voll damit.
Ich stelle mir vor, wie meine Frau die letzte Nachricht auf dem Tisch betrachtet und traurig den Kopf schüttelt. Als sie spricht, klingt ihre Stimme nüchtern.
– Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen, Kleines.
– Mama, ich will bei Papa bleiben.
– Ich weiß.
– Du solltest auch bleiben.
–