Als Achim und Edmont das Bier an sich vorbeiziehen sehen, geben sie das Dartboard frei und setzen sich zu uns an den Tisch. Die Narbe in Achims Nacken steht weiß hervor, Edmont dagegen wirkt sehr entspannt, er hat das Spiel gewonnen, verliert aber kein Wort darüber. Wir stoßen an. Es ist nach Mitternacht, der Pub schließt um zwei, die Stimmung könnte nicht besser sein. Mir bleiben noch gute eineinhalb Stunden. Ich wünschte, es wäre ein Jahr.
– Ich muß euch etwas erzählen, sage ich mitten in eine Diskussion über die Gaspreise hinein und bin überrascht, daß sie mir sofort zuhören. Ich atme tief durch und mit dem Durchatmen setzen sich die Flußkiesel in meinem Kopf langsam und träge in Bewegung, als hätte ich sie aus einem tiefen Schlaf geweckt. Erst einer, dann zwei. Das Wasser reißt sie mit. Keine Kanten, keine Ecken mehr, nur das Schaben von Stein auf Stein, als sie sich lösen. Seit einem Jahr arbeite ich auf diesen Moment hin. Ich habe mir Zeit gelassen. Der Winter hat sich jetzt erst auf die Stadt gestürzt, es hätte mir nichts genützt, diese Männer vorher kennenzulernen, denn das hier ist ihre Zeit.
Der Schweiß steht mir auf der Stirn, mein Mund ist trocken. Ich trinke meinen Wodka Lemon und die Eiswürfel schlagen mir schmerzhaft gegen die Vorderzähne. Ich sehe zwar Sympathie, begreife aber gleichzeitig, daß ich nach all unseren gemeinsamen Abenden noch immer nicht zu ihnen gehöre, trotzdem mögen sie mich und das ist ein gutes Zeichen. Ich bin dankbar und sage es ihnen.
– Ich wollte mich bedanken. Wie ihr mich die letzten Wochen aufgenommen habt, ihr …
Ich verstumme, mir fehlen die Worte, wir Männer und unsere verhaltenen Emotionen. Ich wische mir über den Mund. Genug ist genug. Ich mache weiter.
– Es ist mir peinlich, aber ich will, daß ihr mich versteht. Meine Frau und ich … Ich habe euch ja erzählt, daß sie mich verlassen hat, ich habe euch aber nicht erzählt, was der Grund gewesen ist. Ich … Ich weiß einfach nicht, wohin mit mir.
Ich zeige ihnen meine Hände, sie zittern, keine Tricks dahinter.
– Manchmal wache ich nachts auf und halte mich an der Matratze fest, damit ich nicht aufstehe, so hungrig bin ich.
Schweigen am Tisch. Die Musik spielt weiter, die Gespräche um uns herum sind ein Murmeln, der Dartautomat dudelt, aber ich höre nichts davon, denn ich sitze plötzlich in einem Kokon aus Stille. Vier Männer sehen mich an. Ihre Blicke sprechen zu mir. Ich soll aufhören, drumherum zu reden. Ich soll zum Punkt kommen. Also komme ich zum Punkt und schließe kurz die Augen und denke an meine Tochter, und sofort öffnet sich der Schmerz hinter meinen Schläfen wie ein Fächer aus Dornen. Fünf Sekunden vergehen. Fünf Sekunden können alles entscheiden. Ich sehe ihnen in die Augen. Meine Stimme ist ein Flüstern, als ich sage:
– Ich hungere nach meiner Tochter. Ich träume von ihr. Ich will sie. So sehr. Ihr seid Männer, ihr versteht das doch, oder? Ich meine … Bitte, versteht mich. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich will sie, versteht ihr mich? Ich will sie.
Blicke. Regungslos. Still. Ich warte. Ich warte, daß sie aufstehen, daß sie gehen, daß sie mich verlachen. Alles ist möglich. Hagen hat sich ein wenig zurückgelehnt, als bräuchte er Abstand zu mir, sein Lockenkopf ist schräg gelegt. Edmonts Brauen sind so weit hochgezogen, daß sein ledernes Gesicht glatt und jung aussieht. Ich bete, daß ich nichts Falsches gesagt habe. Franco sitzt da, als wäre er aus Stein gemeißelt. Achim hat sich als einziger nicht unter Kontrolle. Sein Gesicht zuckt, das Kinn zittert, er spuckt mir die Frage über den Tisch entgegen.
– Was hast du da gesagt?!
Ich senke den Blick, ich stammle:
– Bitte, versteht mich. Ich … Ich habe niemanden, dem ich das erzählen kann … Und ich dachte, ihr … Denn meine Frau … Sie ist …
Ich greife nach dem Wodka Lemon, das Glas ist leer. Hagen schiebt mir sein Bier zu. Ich trinke es in einem Schluck aus. Es tut gut, daß alles raus ist. Edmont beugt sich über den Tisch, da ist keine Harmonie mehr, seine Stimme ist ein Zischen.
– Du willst was?!
Sein Speichel trifft mich im Gesicht. Ich rieche die letzte Zigarette in seinem Atem und will aufstehen und verschwinden, aber Achim ahnt, was ich vorhabe. Er drückt mich runter, sein Griff ist fest an meiner Schulter, er rutscht näher, so daß ich seinen Bauch spüren kann. Es ist fast schon obszön. Ich fühle die Hitze, die von ihm ausgeht, und lege die Hände flach auf den Tisch. Sie zittern heftig. Ich bin in Panik. Ich gebe auf.
– Es tut mir leid, flüstere ich.
– Du willst was?! wiederholt Edmont.
– Antworte dem Mann, sagt Franco.
– Ja, antworte ihm, sagt Achim.
– Mach schon, drängt Hagen.
Sie warten. Ich muß mit dem Geflüster aufhören. Meine Worte müssen rund sein. Ohne Kanten, ohne Ecken. Rund. Glatt. Und feucht. Feucht vor Lust.
– Ich begehre meine Tochter, sage ich.
Der Kokon ist gerissen. Die Worte sind raus. Der Lärm kehrt mit einem Mal zurück. Die Kellnerin lacht an der Theke, ein Stuhl scharrt über den Boden, die Gespräche brechen sich schrill in meinen Ohren. Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich habe es getan, ich habe begehre gesagt. Die vergängliche Poesie der Verlangens. Ich habe es getan.
Achim ist wieder von mir weggerückt, ich bin froh, seine Hitze und seinen Bauch nicht mehr zu spüren. Die vier Männer starren mich an, als hätte ich mich eben erst vor ihren Augen materialisiert – nicht wirklich überrascht, mehr so, als hätten sie gewartet und gewartet und da, endlich bin ich aufgetaucht.
Sie wechseln einen Blick.
Hagen schaut zu Franco, und Franco schaut zu Achim, und Achim sieht Edmont an, und dann brechen sie in Lachen aus. Franco beugt sich vor und tätschelt meine Wange, als wäre ich ein Boxer, der sich gut geschlagen hat. Edmont macht eine Faust und hält sie mir unter die Nase. »Grrrr!«, macht er, »Grrrr!«. Hagen legt den Kopf in den Nacken und stößt ein kurzes Heulen aus, während er mit den Händen auf die Tischplatte trommelt. Die Leute schauen rüber, sie haben keine Ahnung, was los ist, aber sie prosten uns dennoch zu, der Barkeeper zeigt uns einen Vogel, die Leute schauen wieder weg, Franco sagt:
– Mensch, Mika! Alter Junge, sieh dich doch mal um. Siehst du, was ich sehe? Wir alle wollen doch unsere Töchter ficken, nur leider hat nicht jeder von uns das beschissene Glück, eine Tochter zu haben.
– Leider, sagt Achim.
– Leider, sagt Edmont und seufzt.
– Schuldig, verkündet Hagen.
Dann rufen sie nach der nächsten Runde.
SIE
Sie sind keine Brüder, sie sind keine Freunde. Sie leben außerhalb ihres Lebens ein zweites Leben und nennen es das wahre Leben. In diesem wahren Leben hat jeder seine festen Aufgaben. Jeder steht für sich selbst ein, und zusammen sind sie eins. Sie haben es von ihren Vätern gelernt, ihre Väter haben es von ihren Vätern gelernt, und so geht es über Generationen.
Eine Fackel, die weitergereicht wird.
Ein Licht, das nie verlöscht.
Ihre Zeit ist der Winter, den Rest des Jahres planen sie und arbeiten an den Details der Jagd. Sie gehen dabei minutiös vor und halten immer eine respektvolle Distanz zueinander. Dabei sind sie wie ein See, und wenn das Eis den See bedeckt, ist ihre Zeit gekommen. Ihr normales Leben findet an der Oberfläche statt; unter der Oberfläche und fernab der Blicke toben ihre Seelen – hungrig, gierig und unersättlich. Niemand muß das sehen. Sie haben gelernt, diesen Hunger zu kontrollieren und die Gier in Schach zu halten. Sie haben schon in jungen Jahren von der Unsterblichkeit gekostet und wissen, daß sich ihr Hunger durch nichts stillen läßt. Nur Disziplin hält ihn in Grenzen. Diese Disziplin trennt den Barbaren vom zivilisierten Menschen.