Sklavenjagd. Tomàs de Torres. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tomàs de Torres
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944145501
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braunen Augen blitzten vor Wut, seine Lippen pressten sich zusammen, und Dolores erkannte plötzlich, dass dies sein wahres Gesicht war, dass all seine gute Laune an diesem Morgen, seine Aufmerksamkeiten und seine Liebenswürdigkeit, wieder einmal nichts weiter als eine Rolle gewesen waren, die der Schauspieler Jorge Clavo Delgado gegeben hatte. Sein Erfolg auf der Bühne mochte mäßig sein – sie hingegen fiel ständig auf ihn herein.

      »Du denkst doch nur daran, so schnell wie möglich in die Sicherheit deiner vier Wände, in deine winzige kleine Welt zurückzukehren!«, fuhr er sie an.

      Dolores war bleich geworden, noch bleicher als gewöhnlich, und in ihrem Stuhl zusammengesunken. Sein Ausbruch erschreckte sie, doch seine Worte schmerzten, weil sie selbst nur zu gut wusste, wie recht er hatte. Denn auch wenn der Wagen in Ordnung gewesen wäre, wenn dieser unfassbare Unfall, den sie ihrem Freund niemals erzählen konnte, nicht geschehen wäre, sehnte sie sich in ihr Zuhause zurück, in ihre »winzige kleine Welt«, die ihr Schutz und Sicherheit vor der »großen Welt« draußen bot.

      Und Jorge setzte noch eins drauf: »Du bist eine absolute Niete! Du gehst nicht einmal auf Partys! Und alles nur wegen deiner eingebildeten Agoraphobie!«

      Dolores kämpfte gegen die Tränen an. »Die ist nicht eingebildet, meine Agoraphobie!«, brachte sie schließlich hervor. »Sie ist genauso real wie … wie dieser Tisch hier!« Sie schlug auf die Glasplatte; Wut und Hilflosigkeit über sein völliges Unverständnis lagen in dieser Geste. »Auch wenn damals meine Therapie erfolgreich verlaufen ist, bedeutet das nicht, dass die Phobie verschwunden ist! Sie kann jederzeit wieder durchbrechen, in einer … bedrohlichen Situation …«

      Oh ja, fügte sie in Gedanken hinzu, wenn du nur wüsstest, wie wahr das ist!

      Abrupt sprang Jorge auf und wandte ihr den Rücken zu, sah durch das Küchenfenster hinunter auf die Straße. Aber sein Ausbruch war noch nicht beendet.

      »Du pflegst deine Ängste, behütest und hätschelst sie! Du gibst ihnen nach, ergibst dich ihnen, anstatt dich ihnen zu stellen! Und wenn du das schon nicht kannst, wenn du nicht die Kraft und den Mut dazu aufbringst, dann versuche wenigstens, sie zu überspielen! So zu tun, als gebe es sie nicht – als seist du eine Frau wie jede andere!«

      Dolores schüttelte den Kopf, unfähig zu antworten. Sie wusste, dass er recht hatte, zumindest von seiner Warte aus gesehen, doch wenn er ihre Probleme schon so klar erkannte, warum, zum Teufel, verstand er dann nicht, dass sie nicht anders konnte, dass sie diesen Teufelskreis von Angst und der Angst vor dieser Angst nicht durchbrechen konnte?

      Sie wischte sich die Augen mit der Papierserviette ab, solange er noch zum Fenster hinausstarrte. Ihre Lippen zitterten, doch wenigstens konnte sie wieder sprechen, wenn auch stockend und abgehackt.

      »Ich – ich bin keine Schauspielerin, die ihre wahren Gefühle verbergen kann.« So wie du. »Ich bin nun einmal so, wie ich bin; ich kenne meine Probleme und stehe zu ihnen«, ergänzte sie in einem Anflug von Trotz.

      Er wirbelte herum und sein rechter Zeigefinger schoss auf sie zu, als sei sie eine Bühnenschauspielerin, die ihm soeben das Stichwort gegeben habe. »Das ist ja eben nicht der Fall! Du versuchst, jedes noch so kleine Problem zu vermeiden, flüchtest und verkriechst dich vor ihm, anstelle auch nur den Versuch zu unternehmen, dich ihm zu stellen und es zu lösen! Willst du endlos so weiterleben? Pah, du weißt ja gar nicht, was Leben heißt! Aber ich bin nicht so, ich will etwas von meinem Leben haben, es ist ja schließlich kurz genug!«

      Wütend stapfte er davon und ließ eine zutiefst verunsicherte Dolores zurück.

       Du weißt ja gar nicht, was Leben heißt!

       Du bist eine absolute Niete! Du gehst nicht einmal auf Partys!

      Das Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür unterbrach den Teufelskreis ihrer Gedanken. Verwirrt schrak sie auf. Jorge hatte seine schwarze Jacke – er trug überhaupt meist Schwarz, was ihn in der Menge noch unauffälliger machte, als er ohnehin war – übergeworfen und war in die Schuhe geschlüpft.

      »Du willst schon weg?«, fragte sie ungläubig. »Es ist noch nicht mal Mittag!«

      Er zuckte mit den Schultern und stellte eine entschuldigende Miene zur Schau. »Du weißt ja, wie das ist mit einer Premiere – es gibt eine Menge vorzubereiten …«

      Er war bereits zur Hälfte im Treppenhaus, als er sich noch einmal umwandte.

      »Danach ist eine kleine Feier geplant, nur für das Ensemble und ein paar wichtige Leute – du brauchst also nicht im Theater auf mich zu warten! Ich weiß nicht, wann ich nach Hause komme!«

      Die Tür schlug hinter ihm zu – neben demjenigen einer Totenglocke der bedrückendste Laut, den Dolores kannte.

      Gegen halb zwei holte sie der Hunger wieder ein. Die Zwischenzeit – nicht weniger als drei Stunden, wie sie ohne große Überraschung feststellte, als sie sich erhob – hatte sie beinahe reglos zugebracht, zusammengesunken am Küchentisch, so, wie Jorge sie zurückgelassen hatte. Nur ihre Gedanken waren währenddessen umhergeschweift, waren durch jene endlose Landschaft von Zeit und Raum geglitten, manchmal auch gejagt, die sich im Geist eines Menschen auftat. Szenen aus ihrer frühesten Kindheit, des Glücks und der Geborgenheit, wechselten sich ab mit späteren, solchen des Schreckens und der Verzweiflung. Sie wusste, dass der Schlüssel – oder zumindest einer der Schlüssel – zu ihren Problemen in ihrer Kindheit zu suchen war; in einem Erlebnis, das so tief in ihrem Unterbewussten verschüttet war, dort verwahrt, behütet wurde, dass nicht einmal die Psychologen, die sich im Laufe der Jahre um sie bemüht hatten, imstande gewesen waren, es an die Oberfläche zu bringen und es damit zu entschärfen, wie ein Feuerwerker eine Fliegerbombe entschärft – sie ist dann zwar noch vorhanden, für jeden sichtbar, doch sie kann niemandem mehr schaden.

      Und so war Dolores dankbar gewesen für den Weckruf ihres Magens. Sie zog ihre Schuhe an, steckte den Schlüsselbund in die Handtasche und machte sich zu Fuß auf den Weg.

      Zu Beginn hielt sie sich ängstlich in der Deckung der Mauern der Häuser, wie sie es früher, vor ihrer Therapie, getan hatte, doch bald erkannte sie erleichtert, dass ihr das Überqueren von Straßen oder auch kleineren Plätzen keine Schwierigkeiten bereitete. Der Rückfall in der vergangenen Nacht – sie scheute sich, das Wort »Panikattacke« auch nur in Gedanken zu verwenden, als würde sein Gebrauch alle Dämonen der Vergangenheit wieder heraufbeschwören – schien ein einmaliger »Ausrutscher« gewesen zu sein, bedingt durch ihre im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Anspannung.

      Schließlich aß sie in einem Restaurant, nur wenige Straßen weiter, das sie aus der Zeit kannte, als Teresa hier gewohnt hatte. Später streifte sie ein wenig durch die Stadt auf der Suche nach Zerstreuung. Die Zeit bis zum Abend, bis zum Beginn der Premiere, war lang, und Dolores fürchtete, dass der Abend selbst noch länger werden würde.

      Irgendwann fand sie sich auf der Plaza vor der Kirche von Santa María la Mayor wieder, wo einige Mütter sich unterhielten, während sie Kinderwagen hin- und herschoben. Eine Handvoll Touristen fotografierte die eindrucksvolle Renaissance-Fassade des fünfhundert Jahre alten Gotteshauses. Dolores setzte sich auf eine Bank und sah dem Treiben eine Weile zu, bis sich ihr ein Paar näherte, eine Digitalkamera fragend ausgestreckt. Beide waren höchstens 25 Jahre alt, sie blond und hochgewachsen, ihre Finger mit mehreren Ringen geschmückt, die in der Nachmittagssonne glitzerten. Der Mann hatte dunkle, fast schwarze Haare und einen Kinnbart, der Dolores unwillkürlich an einen Ziegenbock erinnerte. Er redete sie in einer hart klingenden Sprache an, die sich irgendwie osteuropäisch anhörte. Dolores verstand die Worte nicht, jedoch das Lächeln und die Gesten, und sie lächelte zurück. Der Mann zeigte ihr, wie sie die Kamera auslöste, und sie schoss einige Bilder des Paares vor dem Hintergrund des dreigiebligen Frontispizes der Kirche sowie des auch aus der Ferne überaus eindrucksvollen Peña de los Enamorados, des »Felsens der Verliebten«, dessen doppelte, zur Seite geneigte Kuppe tatsächlich an ein Paar erinnerte, das im Begriff war, auf sein Liebeslager zu sinken.

      Als sie den Fotoapparat zurückgab, bedankten sich die beiden mit freundlichem Lachen, und ehe Dolores das Vorhaben des Mannes