Sklavenjagd. Tomàs de Torres. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tomàs de Torres
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944145501
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ich nur tun?

      Tränen der Verzweiflung traten in ihre Augen und ließen die Straße vor ihr verschwimmen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg und blinzelte, bis sich ihre Sicht wieder klärte.

      Den Wagen, überlegte sie, konnte sie reparieren lassen. Sie kannte eine kleine Werkstatt in Málaga, in der Nähe ihrer Wohnung. Der Saxo und sie waren praktisch Stammkunden dort; der Inhaber kannte sie mit Namen. Er würde wohl keine Fragen stellen oder gar Anzeige erstatten. Wenn die Reparatur etwas teurer werden sollte, musste sie eben etwas von ihrem »Notgroschen-Sparbuch« abheben, das sie vor Jahren für ihre Aussteuer angelegt hatte und auf das sie Monat für Monat 40 Euro einzahlte, worüber sich Jorge regelmäßig mokierte.

      Und zu der Wohnung von Jorges Bekanntem in Antequera, spann Dolores das Drehbuch weiter, gehörte nach Aussage ihres Freundes eine Einzelgarage. Sie konnte den Wagen dort einstweilen parken, ohne dass der Schaden auffiel, und dann irgendwann in der Nacht – vielleicht von Sonntag auf Montag – nach Hause zurückkehren. Diesmal natürlich über die Autobahn.

       Jorge …

      Beim Gedanken an ihren Freund wurde ihr unwohl. Ob sie ihm dieses schreckliche Erlebnis erzählen sollte? Ob er ihr wenigstens glauben würde? Wie schön, dachte sie, müsste es sein, einen Freund zu haben, dem man vertrauen und mit dem man über alles sprechen konnte! Einen Freund, der Verständnis zeigte und sich nicht über ihre Ängste mokierte, sie nicht als »lächerlich«, bestenfalls als »eingebildet« abtat!

      Mit Gewalt löste sie sich von diesen Gedankenspielen und versuchte, sich wieder auf die Straße zu konzentrieren.

      Das Gefälle auf Antequera zu war erheblich geringer als die Steigung vorher, da die Stadt mehr als fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel lag. Außerdem war die Straße hier besser ausgebaut und wies weniger enge Kurven auf. Dennoch fuhr Dolores weiter im zweiten Gang; der Schock saß zu tief, als dass sie es gewagt hätte, wieder Gas zu geben. Mit nicht mehr als dreißig Stundenkilometern schlich sie dahin, während das Zyklopenauge des Scheinwerfers die Nacht teilte. Schließlich, einige Kilometer weiter, an einer Stelle, an der rechts eine ungeteerte Straße abzweigte, sah Dolores die Lichter eines geparkten Fahrzeugs. Ihr Herzschlag stockte für einen Augenblick, und sie nahm instinktiv den Fuß vom Gaspedal.

      Während sich der Saxo dem anderen Wagen langsamer weiter näherte, erfasste der Scheinwerfer dessen Breitseite – ein nicht allzu großes Allradfahrzeug, lackiert in Weiß, die Tür dagegen in einer dunklen Farbe. Davor stand der Schatten eines Mannes. Es dauerte lange Sekunden, bis Dolores begriff, was sie da vor sich hatte.

       Polizei! Das ist ein Wagen der Guardia Civil!

      Ihre erste, instinkthafte Reaktion war, das Gaspedal durchzutreten und so schnell wie möglich davonzubrausen, doch sie konnte diesen Impuls gerade noch unterdrücken. In diesem Moment löste sich der Schatten des Mannes von dem Wagen und trat in das Scheinwerferlicht, vielleicht noch 20 Meter von Dolores entfernt. Sie hatte recht gehabt; er trug die dunkelgrüne Uniform der Guardia Civil, nicht jedoch die signalgelbe Warnweste, die die Verkehrspolizisten normalerweise sogar am Tag umhatten. Seine linke Hand ruhte an seinem Ohr und er bewegte die Lippen – offensichtlich telefonierte er mit jemandem.

      Dann streckte er gebieterisch die Rechte aus, ohne das Mobiltelefon abzusetzen.

      Ein Wirbelsturm von Gedankenfetzen erhob sich in Dolores. Immer noch keiner klaren Überlegung fähig, siegten die eintrainierten Reflexe; sie trat auf die Bremse und brachte den Wagen gehorsam zum Stehen. Sie sah, wie der Polizist das Telefon einsteckte und stattdessen eine Taschenlampe aus einer der Taschen seiner Uniform zog, doch erst als deren greller Strahl in ihre Augen, in ihr Gehirn stach, wurde sie sich dessen wirklich bewusst. Und endlich kehrte ihr Denkvermögen zurück; die Stimme der Vernunft drang, zum ersten Mal seit dem Unfall, der kaum mehr als eine Viertelstunde zurückliegen konnte, wieder zu ihrem Bewusstsein durch.

      Das ist deine Chance!, wisperte sie. Nur die Wahrheit kann dich jetzt noch retten – die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit! Erzähle ihm, was passiert ist – und dass du vom Unfallort aus die Polizei rufen wolltest, aber nicht konntest! Zeig ihm dein Handy, dann kann er selbst sehen, dass der Akku leer ist! Und hat die nackte Frau dort oben nicht Fußspuren hinterlassen – blutige Fußspuren? Er wird leicht feststellen können, dass sie nicht von deinen Schuhen stammen – es muss also noch jemand dagewesen sein! Es wird alles gut werden!

      Eine Woge der Erleichterung durchflutete sie. Sie schaltete in den Leerlauf, zog die Handbremse an und öffnete die Tür. Dann stolperte sie hinaus und auf den Polizisten zu, der nach wie vor kaum mehr als ein langgezogener Schatten war, blieb jedoch abrupt stehen, als der Strahl der Taschenlampe abermals ihr Gesicht fand und sie so stark blendete, dass sie die Augen schließen musste.

      »Es … es hat einen Unfall gegeben!«, stammelte sie. »Dort oben, kurz vor dem Pass! Ein schwarzer Mann – nein, ich meine …«

      »Ich weiß«, unterbrach sie der andere mit ruhiger Stimme. Für Dolores, die ungläubig die Augen wieder aufriss, war sein Gesicht nicht mehr als ein dunkler Umriss. Ihre Augen tränten, dennoch zwang sie sich, sie offen zu halten. Die Taschenlampe war unverändert auf ihr Gesicht gerichtet.

      »Sie … Sie wissen das?«

       Wie kann das sein? Da war niemand – niemand außer mir, dem Mann und der Nackten! Und die lief in die andere Richtung davon!

      »Jetzt hören Sie mir mal gut zu«, sagte der Polizist in unverändert ruhigem Tonfall, als hätte sie ihn gerade nach dem Weg oder nach der Uhrzeit gefragt. »Sie haben nichts gesehen – es ist nichts passiert! Haben Sie mich verstanden?«

      Dolores glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. »Nichts passiert?«, wiederholte sie ungläubig. Sie blinzelte. Der Mann musste ihre Worte falsch interpretiert haben; möglicherweise dachte er, sie wolle sich einen Scherz erlauben oder sie habe zu viel getrunken oder …

      »Es ist nichts passiert!« Diesmal klang die Stimme, beinahe körperlos hinter dem gleißenden Lichtstrahl hervordringend, eine Spur schärfer.

      »Aber ich habe einen Mann überfahren! Es war ein Unfall, ich schwöre es! Doch dann kam diese Frau, die nichts anhatte und eine …«

      »Vergessen Sie das!«, herrschte sie der Polizist nun ungeduldig an. »Vergessen Sie ganz schnell alles, was Sie gesehen haben, sonst werden Sie eine sehr unangenehme Überraschung erleben! Wenn Sie es dennoch jemandem erzählen … nun, dann wird man es so einzurichten wissen, dass es nach Fahrerflucht aussieht. Aber nicht etwa nur ein Unfall mit Fahrerflucht, sondern Unfall und Totschlag! Bis Sie dann wieder aus dem Gefängnis kommen, werden Sie eine alte Frau sein, und das wäre doch jammerschade, oder nicht? Oder nicht?«, wiederholte er, noch lauter, drohender.

      »Aber …«

      Verständnislosigkeit erfüllte Dolores, um gleich darauf von einem anderen, viel intensiveren Gefühl hinweggeschwemmt zu werden: nackter Verzweiflung. Nach all dem Entsetzen, all dem Grauen, das sie dort oben zwischen den Felsen hatte erleben müssen, nach der ersten Panikattacke seit über einem Jahr und dem namenlosen Horror ihrer eigenen Gedanken, hatte ihr der Anblick des Polizisten einen Ausweg gewiesen, hatte sie geglaubt, den schrecklichen Bildern, die sich in ihr Gehirn gebrannt hatten, dadurch entkommen zu können, dass sie sie mit jemandem teilte, die Verantwortung teilte und auf jemanden abwälzte, der es gewohnt war, Verantwortung zu übernehmen, zu tragen, zu ertragen – und nun sollte ihr diese Möglichkeit, dieser Fluchtweg vor ihr selbst genommen werden?

       Das kann nicht sein! Das ist alles nicht wahr! Ich bin in einem Albtraum gefangen!

      Sie fühlte Nässe auf ihren Wangen und erkannte erst da, dass sie haltlos weinte, dass ihre grenzenlose und absolute Hilflosigkeit ein Ventil hatte finden müssen. Sie wandte den Kopf, um dem Lichtspeer auszuweichen, und versuchte die Tränen wie bereits kurz zuvor auf der Fahrt mit dem Handrücken wegzuwischen, doch diesmal waren es zu viele und der Strom wollte nicht versiegen, die Not nicht enden.

      Eine mitleidlose Stimme drang wie entfernter, unheilverkündender Donner an ihr